Steigende Behandlungszahlen relativieren Ärzteneuzulassungen

Wie aus der Ärztestatistik der Bundesärztekammer (BÄK) für das Jahr 2016 hervorgeht, erhöhte sich die Zahl der bei den Landesärztekammern gemeldeten Ärzte geringfügig um 2,1 Prozent. Dieser leichte Zuwachs relativiert sich, wenn man die enorm hohen Behandlungszahlen in Praxen und Kliniken betrachtet.

BÄK sieht kein Ende der Entwicklung

Wie aus der Ärztestatistik der Bundesärztekammer (BÄK) für das Jahr 2016 hervorgeht, erhöhte sich die Zahl der bei den Landesärztekammern gemeldeten Ärzte geringfügig um 2,1 Prozent. Dieser leichte Zuwachs relativiert sich, wenn man die enorm hohen Behandlungszahlen in Praxen und Kliniken betrachtet. Allein in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung kommt es jährlich zu mehr als einer Milliarde Arzt-Patienten-Kontakten. In den Krankenhäusern erhöhte sich die Zahl der Behandlungsfälle in den letzten zehn Jahren um mehr als 2,5 Millionen auf fast 19,8 Millionen. Da die Deutschen immer älter werden, ist ein Ende dieser Entwicklung nicht in Sicht.

Dr. Martina Wenker Vizepräsidentin der BÄK, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen

Fragen dazu an Dr. Martina Wenker, Vizepräsidentin der BÄK, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen

esanum: Die jüngste Ärztestatistik Deutschland 2016 zeigt: Es tut sich eine Schere auf zwischen Behandlungsbedarf und Behandlungskapazitäten – wie besorgt sind Sie?

Wenker: Besorgt bin ich nicht. Ich nehme das zur Kenntnis und denke, wir müssen jetzt gegensteuern. Das Wichtige an der Statistik ist ja, was wir aus den Zahlen ableiten. Wir müssen dem Ärztemangel aktiv gegensteuern.

esanum: An welche Maßnahmen denken Sie?

Wenker: 1000 Medizinstudienplätze mehr im Jahr. Die werden jetzt gebraucht, denn es dauert 10 bis 15 Jahre, bis diese Studierenden als Fachärzte zur Verfügung stehen.

esanum: Ein wenig entschärft wird der Ärztemangel durch Zuwanderung aus dem Ausland. 11 Prozent der in Deutschland berufstätigen Ärztinnen und Ärzte haben eine ausländische Staatsbürgerschaft. Gefällt Ihnen das?

Wenker: Es kommen aus der ganzen Welt Ärzte nach Deutschland, auch unter den Asylbewerbern sind Ärzte. Das ist auf der einen Seite gut. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass genau diese Ärzte den ärmeren Ländern dann fehlen. Und es kann nicht sein, dass wir als eine der reichsten Industrienationen unseren Bedarf an Ärzten nicht selbst ausbilden. Es gibt genug junge Menschen, die Medizin studieren wollen – auf jeden Studienplatz kommen  zehn Bewerber.

esanum: Was steht der Schaffung von mehr Studienplätzen denn im Weg?

Wenker: Die Forderung ist nicht neu und ist im „Masterplan Medizinstudium 2020“ auch gerade anerkannt worden. Es ist gelinde gesagt befremdlich, dass jetzt eine Expertenkommission eingesetzt worden ist, die zunächst ausrechnen soll, was denn das wohl kosten wird. Aber wir wissen ja, was ein Medizinstudienplatz kostet, nämlich 180 000 bis 200 000 Euro. Das kann man also mal 1000 nehmen und dann weiß man, was das kostet. Doch jetzt soll diese Expertenkommission die Kostenverteilung zwischen Bund und Land errechnen. Dabei vergeht wertvolle Zeit. Die Forderung bleibt: 1000 mehr jetzt. Und beide sind in der Pflicht: Bund und Land.

esanum: Was tun Sie selbst in Ihrem Bundesland Niedersachsen?

Wenker: Die Uni Bielefeld will jetzt Medizinstudienplätze neu anbieten. Ich klopfe selbst bei den Universitäten an, wo wir noch 100 Plätze mehr anbieten können. Das muss aber finanziert werden. Und deswegen ist meine Forderung: Bund und Länder mögen sich fix einigen. Worauf noch warten?!

esanum: Fast jeder vierte niedergelassene Arzt plant, in den nächsten fünf Jahren seine Praxis aufzugeben. Wie soll der Bedarf vor allem in ländlichen Gebieten gedeckt werden?

Wenker: Wir müssen die völlig berechtigten Bedürfnisse der jungen Ärztegenration im Blick haben. Die wollen gern ihre Kinder aufwachsen sehen. Die wollen nicht 100 Stunden die Woche arbeiten und jedes Wochenende und nachts erreichbar sein. Die möchten familienfreundliche Arbeitsplätze haben. Dazu gehören Phasen in Teilzeit. Die Teilzeitanstellung von Ärzten stieg allein 2015 um 10,6 Prozent. Das kann in der Gemeinschaftspraxis, in der Berufsausübungsgemeinschaft (? Richtig verstanden?), im medizinischen Versorgungszentrum geregelt sein. Wir müssen also ganz anders denken. Die jungen Ärztinnen und Ärzte wollen gern auch im Team arbeiten und nicht mehr als Einzelkämpfer. Auch flexible Arbeitszeiten sind gewünscht.

esanum: Wer kann dafür sorgen?

Wenker: Für die dringend notwendige Flexibilisierung der Versorgungslandschaft sind mehrere Stellen zuständig. Natürlich die Kassenärztlichen Vereinigungen. Auch die Kommunen sind gefragt – sie können Ärztezentren mit aufbauen und sie müssen, wenn sie junge Ärzte anlocken wollen, für eine gute Infrastruktur sorgen – Schulen, öffentlicher Nahverkehr, Arbeitsplätze für die Ehepartner. Eine Region, die ihre Ärzte halten und neue gewinnen will, muss das Gesamtpaket passend machen.

esanum: Aber was ist mit Regionen, die das nicht schaffen?

Wenker: Das gibt es andere Modelle. Von der mobilen Arztpraxis halte ich nicht sehr viel. Warum soll man den relativ teuren Arzt durch das Land schicken, und nicht lieber Patientenbusse einrichten. Also ein Bus, der heute zum Augenarzt, morgen zum Frauenarzt und übermorgen zum Zahnarzt fährt. Oder der Bus klappert dreimal am Tag verschiedene Dörfer ab und bringt die Patienten zum nächsten Ärztezentrum.

esanum: Was belastet die Kollegen an der Gesundheitswirtschaft?

Wenker: Wir haben seit 20 Jahren die Politik der Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Aus gesamtvolkswirtschaftlicher Sicht ist das zwar nachvollziehbar, auf der anderen Seite haben wir in dieser Zeit einen großen medizinischen Fortschritt erlebt - zum Beispiel Knochenmarktransplantationen bei zahlreichen Krebserkrankungen. Das sind sehr hochpreisige Behandlungen. Aber viele Kosten kommen gar nicht der Patientenversorgung zugute, sondern fließen in das Drumherum, in Bürokratie und Verwaltung. Wenn dann in Krankenhäusern entsprechende Fallzahlen erwartet werden und die medizinische Indikation immer mehr in den Hintergrund rückt, dann bedrückt das Ärzte. Wenn also die Ökonomisierung der Medizin dazu führt, dass jede Behandlung nur noch unter Kostengesichtspunkten gesehen wird, dann sage ich als Kammerpräsidentin ganz ausdrücklich: Das Maß aller Dinge muss die medizinische Indikation einer Maßnahme sein.

esanum: Bei allen Problemen der Ärzteschaft - was steht für Sie auf der Habenseite?

Wenker: Trotz aller Probleme und auch Unkenrufe haben wir immer noch eines der besten Gesundheitswesen der Welt. Wenn man das Bürokratiemonster im Geiste mal abzieht, ist die Berufszufriedenheit bei Ärztinnen und Ärzten immer noch sehr groß. Jeder einzelne vor Ort kümmert sich sehr engagiert um seine Patienten. Wir haben unverändert den schönsten Beruf. Auf der einen Seite die naturwissenschaftliche Grundausbildung, das Basiswissen und auf der anderen Seite den Umgang  mit den Menschen, unseren Patienten. Das macht Spaß. Das heißt aber auch, dass die Zuwendungsmedizin, die sprechende Medizin entsprechend gestärkt werden muss.