Noch viele Fragen zu tödlichem Medikamententest offen

Der Fall hat die Forschungswelt aufgewühlt. Doch Wochen nach dem Tod eines Mannes bei einem Medikamententest in Frankreich kommen Informationen nur langsam ans Licht. Tröpfchenweise legen die franz

Der Fall hat die Forschungswelt aufgewühlt. Doch Wochen nach dem Tod eines Mannes bei einem Medikamententest in Frankreich kommen Informationen nur langsam ans Licht.

Tröpfchenweise legen die französischen Behörden neue Informationen über den fatalen Pharmatest von Rennes vor. Die möglichen Anwendungsgebiete des Wirkstoffs BIA 10-2474 klangen vielversprechend: Angststörungen, Parkinson, motorische Störungen, chronische Schmerzen, Krebs. Doch dann erlitt eine Versuchsperson im Januar schwere Hirnschäden und starb, vier weitere Probanden hatten Beschwerden und mussten klinisch versorgt werden. Seitdem wartet die Pharma-Szene auf Antworten. Die Informationspolitik der Behörden und des Pharma-Herstellers Bial gerät unter Beschuss.

Die vier Männer, die unter neurologischen Beschwerden litten, sind inzwischen Zuhause. Sie werden aber weiterhin medizinisch betreut und regelmäßig untersucht. Einige sind in der Reha, wie Biotrial-Chef François Peaucelle dem französischen Radiosender RTL sagte. Es gehe ihnen deutlich besser – für Angaben zu den Langfristfolgen sei es aber noch zu früh. Ein fünfter Proband hatte keine Symptome, war aber vorsorglich ins Krankenhaus gekommen.

Ein 42 Jahre alter Betroffener berichtete am Montag der Regionalzeitung Le Maine Libre von den Folgen des Versuches: “Ich habe immer noch Schwindelgefühle und Unwohlsein, wenn ich mehr als zehn Minuten stehe. Ich sehe weiter doppelt.” Ärzte hofften auf eine Besserung in sechs Monaten oder einem Jahr. “Aber sie sind nicht sicher.”

Gewebeverletzungen im Gehirn

Im Gehirn der Betroffenen kam es zu winzigen Gewebeverletzungen, heißt es in einer Stellungnahme eines wissenschaftlichen Komitees der Arzneimittelaufsicht ANSM. Behördenchef Dominique Martin sagte der Zeitung Le Figaro, dass sie sich “an der Schädelbasis” befinden, verwies ansonsten aber auf die ärztliche Schweigepflicht.

Warum es zu dem Drama kam, wirft weiter Rätsel auf. Eine Verunreinigung ist offensichtlich nicht der Grund: Die Qualität des Produkts entsprach laut Komitee den Anforderungen.

Das Gremium geht von einem Schwelleneffekt aus, dass also ab einer gewissen Menge des Wirkstoffs im Körper die Nebenwirkungen einsetzen. 84 Menschen hatten den Enzymhemmer BIA 10-2474 zuvor bereits geschluckt, ohne dass es zu Problemen kam. 48 von ihnen erhielten jeweils eine Einzeldosis von bis zu 100 Milligramm. Dann bekamen Versuchsgruppen über je zehn Tage eine tägliche Dosis: Bei Gruppe vier mit 20 Milligramm am Tag ging noch alles gut, bei Gruppe fünf mit 50 Milligramm traten dann die Probleme auf.

Analysen noch nicht vollständig

Das Komitee zieht besonders zwei Hypothesen in Betracht: zum einen, dass der Effekt des Wirkstoffs über die reine Enzymhemmung hinausgehen könnte. Zum anderen, dass ein Abbauprodukt (Metabolit) des Medikaments das Drama verursacht haben könnte. Die Analysen müssten fortgesetzt werden, Berichte sind für Ende März angekündigt.

Die französischen Behörden sehen drei “bedeutende Versäumnisse” beim Labor Biotrial, das den Test durchführte. Nachdem der erste Mann am fünften Versuchstag ins Krankenhaus gebracht wurde, habe man sich nicht genug über die Entwicklung seines Zustands informiert. Am nächsten Morgen bekamen die übrigen Teilnehmer daher eine weitere Dosis, erst am Nachmittag wurde der Versuch abgebrochen. Im Zwischenbericht der Generalinspektion für das Sozialwesen werden Mitarbeiter zitiert: “Das Krankenhaus hat uns nicht angerufen.” – “Niemand hat sich die Frage gestellt.”

Zudem habe das Labor die anderen Versuchsteilnehmer nicht über den Vorfall informiert und die Behörden erst spät in Kenntnis gesetzt. Biotrial-Chef Peaucelle sagte der Zeit, die Situation des Probanden sei anfangs nicht alarmierend gewesen. “Bis Dienstag (dem Tag nach der Unterbrechung) herrschte bei uns noch keine Krisenstimmung. Das änderte sich schlagartig am Mittwochmorgen, als wir von den Symptomen der anderen Patienten erfuhren.” Auch die Behörden kommen zum Schluss, dass das Versuchsprotokoll im Großen und Ganzen befolgt worden sei – und sahen keinen Anlass, Biotrials Versuchserlaubnis vorübergehend aufzuheben.

Immer noch nicht alle Daten freigegeben

Seit Wochen gibt es Kritik, weil bestimmte Dokumente zu der Testreihe nicht veröffentlicht werden. “Wir haben alle Informationen gegeben, die wir geben konnten. Es gibt nun mal gewerbliches Eigentum”, verteidigte sich ANSM-Chef Martin. Die Behörde hätte nach eigenen Angaben gern zwei weitere Dokumente ins Netz gestellt, darin auch Informationen zu den Tierversuchen mit dem Wirkstoff – doch das habe der Hersteller Bial verweigert.

So sickern Informationen nur Stück für Stück über die Medien durch – zuletzt etwa der Fakt, dass bei den Tierversuchen mehrere Hunde starben. Die ANSM betonte daraufhin sofort, das sei nicht ungewöhnlich. Bei diesen Versuchen würden bewusst sehr hohe Dosen verabreicht, um Toleranzgrenzen auszutesten. Die Ergebnisse hätten alle Bedingungen erfüllt, um Tests am Menschen zu erlauben. Bial teilte der portugiesischen Wochenzeitung Expresso mit, die zwei Hunde seien “aufgrund von Lungenverletzung gestorben”, so dass “jeder direkte Zusammenhang” mit den Problemen ausgeschlossen werde.

Der Fall hat damit auch eine Grundsatzdebatte angestoßen: Die Britische Pharmakologische Vereinigung etwa forderte, nach Unfällen schnell die Daten zu veröffentlichen. “Das Geschäftsgeheimnis ist ein gültiges Prinzip, das aber vor dem Allgemeininteresse zurücktritt”, sagte Stephen Senn, Leiter einer Arbeitsgruppe der Royal Statistical Society zu klinischen Studien, im Figaro. “Es ist notwendig, dass die Daten von allen diskutiert werden können.”

Text und Foto: dpa /fw