“Alleinsein – eine der schlimmsten Krankheiten im Alter”

Franz Müntefering, Bundesminister a.D., Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen(BAGSO) zur Prävention chronischer Krankheiten sprach auf dem Kongress “Zukunft Prävention”.

Franz Müntefering, Bundesminister a.D., Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen(BAGSO) zur Prävention chronischer Krankheiten sprach auf dem Kongress “Zukunft Prävention”. Sein Thema: Vorsorge – zwischen Paternalismus und Eigenverantwortung

esanum: Krankheit gehört zum Leben und ist nicht zu vermeiden, aber einiges kann man schon beeinflussen. Wo sehen Sie die Verantwortung des Einzelnen?

Müntefering: Menschen können natürlich Einfluss nehmen auf ihre gesundheitliche Entwicklung. Deshalb muss man schon den Kindern vermitteln, was wichtig ist für ihre Physis und ihre Psyche. Aber da kein Mensch perfekt ist, werden wir bei allem Bemühen Schwächen und Krankheiten nicht ausschließen können. Es bleibt also nötig, sich damit auseinander zu setzen, was es bedeutet zu leben, älter zu werden und mit Krankheiten und dem letzten Stück des Lebens konfrontiert zu sein. Und dabei auch Mut zu machen, das für sich zu tun, was einem selbst möglich ist.

esanum: Eigentlich wissen wir sehr viel über die Risiken unseres Lebensstils – warum halten sich so viele einfach nicht an die vernünftigen Ratschläge?

Müntefering: Die Probleme, die durch Krankheiten entstehen, erkennt man oft erst wirklich, wenn sie da sind. Und dann ist vieles zu spät. Dennoch müssen wir den Menschen z.B. klar machen, dass es nie zu spät ist, sich zu bewegen. Es ist schwierig, wenn einer jahrelang nichts gemacht hat und vielleicht 20 Kilo zu viel auf den Rippen hat. Der schämt sich, der kann nicht ruck zuck das Sportabzeichen machen. Der will sich nicht blamieren. Also versucht er es gar nicht erst und lästert vielleicht noch über den, der sich bemüht. Dem muss man die Scheu nehmen. In Großbritannien gibt es Fußball für die Dicken. Da muss sich keiner genieren. Die Idee ist prima.

esanum: Was ist gute Prävention und was ist Bevormundung, bzw. Paternalismus? Z.B. wenn es um so bekannte Aspekte wie Zucker, Zigaretten, Alkohol geht?

Müntefering: Die Gesellschaft muss über diese Themen sprechen. Ich halte z.B. das, was in Sachen Rauchen passiert ist, für sehr vernünftig. Wir schützen uns ja auch im Auto mit Airbags. Und wir haben eine Hochleistungsmedizin. Das ist alles sinnvoll. Aber man muss auch die Grenzen sehen. Ich bin gegen eine Art Gesundheitsgesellschaft, die den Menschen ein bestimmtes Verhalten vorschreibt. Ich halte nichts davon, dass man die Schritte zählt, die man täglich macht, oder sich dauernd kontrollieren lässt. Diese Gesundheitsmasche staatlicherseits zu organisieren, das wäre jedenfalls nicht gut für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Wir werden fast alle einmal von irgendwelchen gesundheitlichen Malaisen erwischt und müssen trotzdem nicht in permanenter Angst leben.

esanum: Und wie stehen Sie zu den Forderungen von Verbraucherschützern und Foodwatch zu Ampelkennzeichen auf Lebensmitteln?

Müntefering: Wer sich gesund ernähren will, der soll leicht erkennen können, was er da genau kauft. Und da, wo das Essen gesundheitsschädlich wird, muss der Verbraucherschutz verbindlich wirksam werden. Aber nicht als Vorschrift für den Einzelnen. Denn das wird nur bedingt wirksam sein. Bei vielen gehen gewisse Informationen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder hinaus. Der Staat kann nicht sagen, wie wir gescheit leben  müssten. Jeder trägt auch selbst Verantwortung.

esanum: Und tun wir denn eigentlich genug in dieser Hinsicht?

Müntefering: Etwa 15 Prozent der 60-Jährigen und der Älteren machen einigermaßen etwas für ihren Körper, sagt die Statistik. Das ist zu wenig. Da ist noch eine Menge zu tun. Wir sind eine Bewegungsverhinderungsgesellschaft. Persönliche Mobilität ist doch eher wichtig als die technische. Die persönliche schätzen wir nicht hoch genug ein. Wir bewegen uns so wenig wie möglich. Das ist falsch, der Körper braucht eine gewisse Anstrengung, der Puls muss mal hoch gehen. Allzu viele über 35-40 Jahre gucken Sportschau und spielen Toto. Und das war es dann mit Sport. Das ist nicht gut für den Körper und für den Geist auch nicht. Alle haben Angst vor Demenz. Und es gibt noch kein probates Mittel dagegen. Aber eins ist immer richtig: Bewegt euch. Das ist auch gut für den Kopf. Demenz ist ein Thema, das man auch ein bisschen instrumentalisieren darf zur Motivierung. Wer sich bewegt, hat zwar noch keine hundertprozentige Sicherheit, denn die Gene sind wie sie sind. Aber das Menschenmögliche tut er dann.

esanum: Also mehr Aufrufe, mehr Aufklärung – oder wie soll es gehen?

Müntefering: Aufklärung ist gut und wichtig. Wir müssen besser lernen, was der Körper eigentlich braucht. Lernen, was uns gut tut. Da könnte die Schule mehr leisten. Natürlich auch die Eltern. Und auch die Medien könnten helfen, die Menschen gesundheitlich gezielter anzusprechen. Das Beste ist, die Menschen dafür zu gewinnen, sich selbst Gedanken zu machen und zu begreifen, dass die Physis und die Psyche ganz eng zusammen hängen. Das haben wir noch nicht so richtig drauf. Wir tun eher etwas für den Körper, weniger für die Seele und fürs Gemüt. Viele Krankheiten und Probleme, die wir im Alter bekommen, bestehen aber aus einer Kombination von beidem. Dabei spielen fehlende soziale Kontakte, die Vereinsamung im Alter, eine große Rolle. Das ist genauso gefährlich wie eine ungesunde Lebensweise. Alleinsein – eine der schlimmsten Krankheiten in unserer Gesellschaft. Es geht also um die Kombination von Bewegung und Begegnung, um gut älter zu werden. Möglichst mit anderen zusammen walken, laufen, zu Kneipp gehen, schwimmen, reiten, tanzen, egal was. Dazu müssen wir mehr Mut machen. Der Landesportbund NRW macht das ganz gut: Es gibt Bewegungssportgruppen. Und es werden Trainer ausgebildet, die lernen, wie man Menschen, die nicht fit sind, wieder an Bewegung heran bringt. Auch das ist sehr gut. Sicherheit im Sport, Sicherheit durch Sport. Bewegung ist Sport in diesem Sinne.

esanum: Was können wir von der Ärzteschaft erwarten, wenn es um Prävention geht? Muss der Hausarzt beispielsweise jedem Übergewichtigen einen entsprechenden Vortrag halten?

Müntefering: Dafür müssen wir die sprechende Medizin besser bezahlen. Es ist ein großes Übel: wir kurieren mehr als vorzubeugen. Besser wäre es, den Ärzten mehr Geld zu geben, damit sie mit Menschen sprechen und sie von einem gesunden Leben überzeugen. Das ist komplizierter als Pillen zu verschreiben. Aber wirkungsvoll und volkswirtschaftlich mindestens nicht teurer.

esanum: Haben Sie selbst immer bewusst gesund gelebt?

Müntefering: Das Bewusstsein dafür wächst erst im Lauf des Lebens, deswegen ist der Begriff Prävention auch ein bisschen ambivalent. Denn wenn man einem 20-Jährigen Menschen sagt: Lebe vernünftig, damit du mit 80 gut dran bist, dann wird der wenig Verständnis dafür haben. Das kann ich auch verstehen. Doch es geht immer um Lebensqualität, in jedem Alter. Deswegen ist es wichtig, zu sagen: Sorge für dich im Jetzt, dann geht es dir jetzt gut – und das wird dir später auch noch helfen. Aber die wichtigste Botschaft: Es ist nie zu spät. Man kann auch mit 60, 70 und 80 anfangen, etwas für sich zu tun. Durch mehr Bewegung und Begegnung. Denn Kopf und Körper gehören eng zusammen. Wenn der Körper schlapp ist, schadet das auch dem Gehirn. Das ist zu wenig bekannt.

esanum: Und wie war das nun bei Ihnen persönlich?

Müntefering: Bis 18 habe ich Fußball gespielt und dann bis 35 sportlich nichts mehr gemacht. Als ich mit 35 in den Bundestag kam, ging es mir nicht so gut. Der Arzt riet mir: Du musst was für dich tun. Dann habe ich im Bundestag in einer Mannschaft wieder Fußball gespielt und auch gejoggt. Ich habe systematisch auf Fette verzichtet. Ich sage immer scherzhaft: Manche sterben an Arsen, andere an Soßen. Das mediterrane Essen ist einfach gesünder. Vor allem aber: Seit 40 Jahren bewege ich mich wieder mehr. Ziemlich regelmäßig.

Das Gespräch führte Vera Sandberg.

Vera Sandberg#Vera SandbergVera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.