Berliner Klinik probt für den Ernstfall

Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe: Dank unangemeldeter Übungen sollen Berliner Krankenhäuser für Notfälle gewappnet sein. Aber wie bewältigt eine Klinik Dutzende Verletzte auf einen Schlag?

Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe: Dank unangemeldeter Übungen sollen Berliner Krankenhäuser für Notfälle gewappnet sein. Aber wie bewältigt eine Klinik Dutzende Verletzte auf einen Schlag?

Die Erinnerungen an den Terroranschlag am 19. Dezember sind noch frisch, als es am Donnerstag in Berlin erneut heißt: Alarm. Er kommt nicht mit schrillenden Glocken, sondern ziemlich still - per Fax an das Sankt-Gertrauden-Krankenhaus. Unfall mit Bus und Lkw heißt es da. Die Klinik solle sich auf das Eintreffen von 30 Verletzten einstellen. Ärzte und Pfleger im Feierabend erhalten automatisierte Anrufe, vorgewarnt ist angeblich niemand. Es ist kurz nach 19 Uhr, als die erste Notfallübung seit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche beginnt.

Es dauert ein paar Minuten, bis die Aufregung in der bis dahin eher ruhigen Notaufnahme nahe dem Heidelberger Platz in Wilmersdorf greifbar wird. Ein verwirrt dreinblickender Mann tritt durch die Schwingtür, sucht seine Tochter. Ist der echt oder Teil der Übung - und damit ein Laien-Darsteller aus dem Team des Arbeiter-Samariter-Bundes? Diese Frage wird sich das Personal noch bei weiteren Hilfesuchenden stellen.

Unter den Augen von Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD), Vertretern von Verwaltung, Polizei und Feuerwehr gilt es, mit dem Massenandrang von Patienten fertig zu werden. Die Übung ist keine Konsequenz aus dem Anschlag an der Gedächtniskirche, sie war lange vorher geplant. Rund acht solcher Testläufe gibt es an den knapp 40 Berliner Krankenhäusern mit Notfallversorgung jährlich - rund 210 seit 1985. Berlin hat damit im Bundesvergleich eine relativ lange Tradition beim Training des Ausnahmezustands. Etwa alle fünf Jahre trifft es die Kliniken, wobei das Szenario von deren Größe abhängt.

Eine der ersten Patientinnen ist eine junge Frau, der ein Teil ihres Fingers zu fehlen scheint. "Haben Sie das Stück dabei?", fragt die Ärztin, die nun binnen weniger Minuten über die Dringlichkeit jedes neuen Falls entscheiden muss. Das angebliche Unfallopfer verneint. Weil der komplette Finger daher kaum zu retten sein wird, bekommt sie den Status Grün, ihre Behandlung kann warten. Je nach Schwere der Verletzungen gibt noch die Stufen Gelb und Rot. An der Wand hängt ein komplexes Schema, eine Art Checkliste zur Entscheidungsfindung.

Zeit für einen Blick darauf hat in der Hektik aber niemand. "Das ist die übliche erste Chaosphase", sagt Detlef Cwojdzinski vom Gesundheitlichen Bevölkerungsschutz der Gesundheitsverwaltung. Das ruckle sich zurecht. Nach und nach werden weitere Schein-Opfer in die Notaufnahme gebracht. Sie stöhnen und schreien, ein einziges Gewusel. Ein Darsteller mit künstlichem Blut und Glassplittern auf der Nase klagt über langes Warten. Die Schwere seiner - gespielten - Verletzung sei auch nicht erkannt worden, kritisiert er. Aber immerhin: Die menschliche Betreuung beurteilt er als gut. Durchfallen kann hier ohnehin niemand, Cwojdzinski spricht von einer "partnerschaftlichen Herangehensweise".

Alle Fäden laufen in einem anderen Zimmer beim Katastrophenschutzbeauftragten Dietmar Sander zusammen. Er hat am Computer zum Beispiel im Blick, ob die Beatmungsplätze ausreichen und wie viele Verletzte inzwischen im Haus sind. Immer wieder hat er sein Funkgerät am Ohr, um etwa Kontakt zur Notaufnahme zu halten. Er weiß auch: Nach etwa einer Stunde sind bereits rund 120 zusätzliche Mitarbeiter hereingekommen. An Einsatzbereitschaft mangele es in Ausnahmesituationen nicht, sagt auch Geschäftsführerin Astrid Duda.

Um 20.30 Uhr ist es dann geschafft. Eine Darstellerin und eine Pflegerin fallen sich in die Arme. Gabriele Zielke entschuldigt sich für ihren Auftritt als umherirrende Angehörige. Unter lauten Rufen wie "Wo ist mein Mann?" und "Hier muss doch irgendwo ein Arzt sein?" lief sie durch alle Zimmer, ohne sich beruhigen zu lassen. Da müssen die Pfleger anerkennen: So ist es im echten Leben. Die Übung sei durchaus realitätsnah gewesen, finden auch zwei Oberärzte. "Aber in echt ist der Adrenalin-Kick ein anderer."

Das weiß wohl auch Senatorin Kolat, die sich am Abend des Anschlags an zwei Kliniken ein Bild der Lage machte. Sie dankt der Belegschaft am Sankt-Gertrauden-Krankenhaus schließlich stellvertretend für alle Helfer, die nach dem Terroranschlag im Dezember in 22 Kliniken die knapp 60 Verletzten versorgten. Sie betont aber auch, dass die Zeit heute eine andere sei als zu Beginn der Übungen 1985. Die Sicherheitslage in Berlin und den Metropolen bleibe ernst und schwierig. Die Übung solle daher auch ein Anlass zum kritischen Überprüfen der Abläufe sein, so Kolat. "Wir sind gut, aber wir wollen noch besser aufgestellt sein."