Geplantes Arztinformationssystem: Bleibt der Nutzen auf der Strecke?

Stell dir vor, es gibt Beschlüsse und keiner kriegt sie mit. So ähnlich scheint es gegenwärtig dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit seinen Bewertungen neuer Medikamente zu gehen.

Quo vadis, AMNOG?

Wie kommen die Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung in die Versorgung? Was bedeutet das für die ärztliche Therapiefreiheit? Und was heißt eigentlich "ohne Zusatznutzen2? Eine Fachveranstaltung beleuchtete zahlreiche Fragen, die das gesetzlich auf den Weg gebrachte Arztinformationssystems (AIS) aufwirft.

Stell dir vor, es gibt Beschlüsse und keiner kriegt sie mit. So ähnlich scheint es gegenwärtig dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit seinen Bewertungen neuer Medikamente zu gehen. Die umfangreichen Informationen werden außerhalb der Insider-Gruppen – wie etwa Preisverhandlern oder Prüfausschüssen – bislang offenbar nur spärlich genutzt. 

Auch Pharmahersteller wie Boehringer Ingelheim sind enttäuscht, wenn ihre positiv bewerteten Innovationen nicht im gewünschten Maß den Weg über die ärztliche Verordnung zu den Patienten finden. Das Unternehmen lud kürzlich zur Fachveranstaltung ins Tieranatomische Theater der Charité Berlin ein, das dann auch bis auf den letzten Platz gefüllt war, vorrangig mit Vertretern aus Politik, Gesundheitswirtschaft, Fachgesellschaften und Verbänden.

"Die Beschlüsse haben in der Versorgung kaum Einfluss"

Seit mittlerweile 6 Jahren ist das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) nun in Kraft. Bis Anfang Februar gab es auf dieser gesetzlichen Grundlage 211 Verfahren zur Bewertung des Zusatznutzens durch den G-BA. Thomas Müller, Leiter der Abteilung Arzneimittel beim G-BA, zeigte auf einer Folie, wie die Beschlüsse bisher ausgefallen sind (höchste Zusatznutzenkategorie je Verfahren): 

•    kein Zusatznutzen: 87; 
•    geringer Zusatznutzen: 38; 
•    beträchtlicher Zusatznutzen: 47;
•    erheblicher Zusatznutzen: 2;
•    nicht quantifizierbar: 33;
•    Festbetrag: 4.

Und der Effekt für den Behandlungsalltag? "Die Beschlüsse haben in der Versorgung kaum Einfluss", konstatiert Müller. Sie sind bisher noch nicht in geeigneter Form aufbereitet, um Haus- und Fachärzte, Apotheker, Patienten und die allgemeine Öffentlichkeit zu erreichen.

Müller hofft deshalb auf neue Formate für die Informationsvermittlung, die in Kooperation mit anderen Berufsgruppen wie Medienwissenschaftlern oder auch Journalisten gefunden werden könnten. Die Kommunikation dürfe nicht Interessengruppen überlassen werden. Denn: "Information ist in der Arzneimitteltherapie alles."

Politischer Lösungsweg: Arztinformationssystem (AIS)

Der politische Lösungsweg lautet: Arztinformationssystem (AIS). Dieses Thema hat den sogenannten Pharmadialog, an dem über 18 Monate drei Bundesministerien und die Pharmaindustrie teilnahmen, durchgängig begleitet. Die Politik sieht es dabei als ihre Aufgabe, den Innovationsstandort Deutschland zu fördern und gleichzeitig die Finanzierbarkeit der Arzneimittel- bzw. Gesundheitsversorgung zu erhalten. 

Mit dem kürzlich vom Bundestag verabschiedeten Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz ist die gesetzliche Grundlage geschaffen, um die umfassenden G-BA-Informationen in die Verordnungssoftware der Ärzte einzupflegen. Lutz Stroppe, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium (BMG), geht davon aus, dass es noch in diesem Jahr eine Rechtsverordnung zum Arztinformationssystem geben wird, die das Prozedere regelt.
An deren Erstellung sollen neben den Pharmadialog-Partnern auch die G-BA-Bänke unter Moderation des BMG beteiligt werden. Beim Prozess der inhaltlichen Entwicklung des AIS wird der G-BA selbst eine zentrale Rolle spielen. 

Verordnungssteuerung oder Therapiefreiheit?

Geht es also primär um eine Verordnungssteuerung nach Kostengesichtspunkten? "Genau dies wollen wir nicht", so Stroppe. Aber der Arzt müsse für eine bewusste Entscheidung die Kosten kennen. Die häufig kritisierte Verbindung der frühen Nutzenbewertung mit der Preis- und Wirtschaftlichkeitsfrage diene letztlich dazu, die Ärzte vor Regressforderungen zu schützen und ihre Therapiefreiheit zu fördern.

Das könnte aktuell schwierig werden, wenn ein vorläufiges Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg Bestand haben sollte. Demnach können Ärzte vom Erstattungsbetrag, den Hersteller und Krankenkassen vereinbart haben, nicht auf die Wirtschaftlichkeit in allen Anwendungsbereichen des Arzneimittels schließen. Damit dürfte dann auch die bisher gängige Mischpreis-Bildung hinfällig werden, die zur Preisfindung bei unterschiedlichem Zusatznutzen-Ausmaß in verschiedenen Patienten-Subgruppen angewandt wird.

Für Müller ist aber ohnehin klar: "Ein Arzt muss nach dem SGB V immer prüfen, ob es eine wirtschaftlichere Therapie gibt."

Sollte sich die Ärzteschaft hier aus ihrer wirtschaftlichen Mitverantwortung stehlen wollen, drohe die Einführung einer Positivliste. Die Gegenposition formulierte der Allgemeinarzt und Vorsitzende der KV Westfalen-Lippe Dr. Wolfgang-Axel Dryden: "Ich bin als Arzt überfordert, wenn ich bei der Volatilität des Marktes die Wirtschaftlichkeit einbeziehen soll."

Wirtschaftlichkeit überlagert Informationsaspekt

Für Dr. Sabine Richard vom AOK Bundesverband wird die ganze AIS-Diskussion zu stark von der Wirtschaftlichkeitsfrage überlagert. Das Arztinformationssystem soll in erster Linie informieren – und das ist allen Beteiligten zufolge sinnvoll und nötig. 

Prof. Bernhard Wörmann von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) forderte bezüglich der Wirtschaftlichkeit klare Vorgaben, "um den Druck von den Ärzten zu nehmen". Er wies auch darauf hin, dass die G-BA-Bewertung an sich auf Wirtschaftlichkeit angelegt sei. Dem Experten zufolge ist die jetzige Form zu unflexibel, nicht in sich schlüssig und "taugt nicht für das AIS". 

Dass die meisten G-BA-Beschlüsse nicht befristet sind, sieht er angesichts der raschen Änderung der Evidenzlage als problematisch an. "Subgruppenanalysen sind eine extrem wichtige Information für den Arzt. Sie werden aber meist erst nach dem Zusatznutzen-Beschluss bekannt", so Wörmann. 
Der Arzt muss seine Verordnung für den einzelnen Patienten belegen können.

Der Krebsmediziner empfiehlt, sich über Onkopedia zu informieren, sofern es um onkologische Therapieentscheidungen und Nutzenbewertungen geht. Die frei zugängliche Open-Access-Plattform biete Transparenz auf hohem Niveau. Damit habe man „in 5 Jahren keine negativen Erfahrungen“ gemacht. Das Vertrauen in das System sei am wichtigsten.

Verkürzung = Vereinfachung = Risiko

Wörmann betonte, dass nur die Einbindung des ganzen (algorithmischen) Therapiebildes zur Verbesserung und Sicherung der Qualität beitragen kann. "Es heißt ja Arztinformationssystem und nicht Arzneimittelinformationssystem". Neben einer verständlichen Darstellung der Beschlüsse sei die Abbildung der Vergleichstherapie, der Evidenz sowie aktueller Daten erforderlich. Grundsätzlich bestehe die Gefahr: "Verkürzung = Vereinfachung = Risiko".

Allgemeiner Konsens bestand darin, dass ein Bewertungslabel á la "mit/ohne Zusatznutzen" allein nicht zielführend sein kann, sondern nur zusammen mit dem Stellenwert des Medikaments in der Therapie.

"Kein Zusatznutzen" heißt nicht "kein Nutzen"

Dabei bedeutet "kein Zusatznutzen" auch nicht, dass das betreffende Medikament keinen Nutzen hätte, wie mehrfach betont wurde. Zum einen ist die Wirksamkeit ja schon im Rahmen der Zulassungsbewertung bestätigt worden. Zum anderen reichen die Daten aus den herangezogenen Studien aus unterschiedlichen Gründen häufig nicht aus, um den Zusatznutzen gegenüber der vom G-BA festgelegten "zweckmäßigen Vergleichstherapie" zu belegen. 

Oder die Zulassungsstudie trifft nicht die von den obersten Nutzenbewertern festgelegten Kriterien. Laut Dr. Markus Frick vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VfA) ist das bei drei Viertel der Produkte ohne Zusatznutzen der Fall. 

Statt "kein Zusatznutzen" erscheint deshalb "Zusatznutzen nicht belegt" als die bessere Formulierung, wie mehrere Redner betonten. Darüber hinaus gibt es Patienten, für die die Vergleichstherapie nicht infrage kommt, mit inakzeptablen Nebenwirkungen verbunden ist oder schlicht nicht wirkt. Ein mit dem Label „ohne Zusatznutzen“ versehenes Medikament stellt dann möglicherweise nicht eine Alternative, sondern mitunter die einzige, ggf. auch mit Evidenzgrad A leitliniengestützte Therapieoption dar.

Schließlich kann es auch passieren, dass bei einem neuen Medikament der Zusatznutzen nicht anerkannt wird, da es – statt gegen die ursprüngliche Vergleichstherapie – mit einem ähnlich gut wirksamen Präparat verglichen wird, das schon vorher auf den Markt gekommen ist. Auf ein entsprechendes Beispiel aus der Onkologie wies Wörmann bei seinem Vortrag hin.
G-BA-Beschlüsse: keine Folgen für die Versorgung?

Ob die G-BA-Beschlüsse auf die Versorgung tatsächlich kaum Einfluss haben, ist fraglich. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) etwa sieht das ganz anders. In ihrer Jahrespressekonferenz, die ein paar Tage vor der AIS-Fachveranstaltung stattfand, wies sie darauf hin, dass im Rahmen der frühen Nutzenbewertung bereits 8 neue Antidiabetika vom Markt genommen wurden.

Quelle:
"AIS-Arztinformationssystem" – Anforderungen für ein Versorgungsmanagement. Boehringer Ingelheim Fachveranstaltung. Berlin, 22. März 2017.