Ein Trend aus Japan, der auch in Deutschland immer mehr Anhänger findet: Mit der Waldmedizin gibt es eine eigene Wissenschaft. Eine Heilpraktikerin in Brandenburg schwört auf das Waldbaden.
Auf den ersten Blick wirkt es, als würden die beiden Frauen einfach nur im Wald bei Basdorf (Barnim) spazieren gehen. Doch es steckt mehr dahinter: Beide sind barfuß, laufen schweigend sehr langsam, berühren mit den Händen herabhängende Zweige und Blätter, lassen Kiefernadeln durch die Finger rinnen. "Es geht darum, den Wald mit allen Sinnen zu erleben", sagt Heilpraktikerin Pia Hötzl, die das Ganze "Waldbaden" nennt.
Mit ihrer Klientin Andrea Stein (Name von der Redaktion geändert) ist die 36-Jährige seit Jahresbeginn regelmäßig im Wald unterwegs. "Ich habe schon alles ausprobiert – von Yoga und Pilates bis zur Meditation. Doch nichts entspannt mich so, wie die Natur", erzählt Stein. Die Arbeit in einem Berliner Verlag, der Hausbau und ihr kleines Kind würden sie unter permanenten Stress setzen, beschreibt sie ihre Situation.
"Wir laufen sehr langsam ohne Ziel, um mehr von unserer Umgebung wahrzunehmen und gleichzeitig zu entschleunigen. Das Handy ist ausgeschaltet, ebenso wie das Gedankenkarussell", sagt die Waldtherapeutin leise und mit ruhiger Stimme, bevor sie sich mit ihrer Begleiterin auf einer Lichtung niederlässt und nach ein paar tiefen Atemzügen mit ihrer Art der Meditation beginnt.
Hötzl selbst ist mit Mann und Kind vor anderthalb Jahren aus Berlin ins ländliche Basdorf gezogen, direkt an den Waldrand. "Was lag da näher, als eine Waldpraxis aufzumachen", sagt die studierte Tourismus- und Eventmanagerin, die mit Ende 20 bereits unter "Burn-Out" litt, wie sie erzählt. Die gebürtige Hessin hat beruflich noch einmal umgesattelt, eine Ausbildung zur Heilpraktikerin der Psychotherapie gemacht. "Gelassenheit und positives Denken kann man trainieren, genauso wie Stressabbau und Entspannung." Und dabei hilft ihrer Überzeugung nach der Wald.
Etwa ein Dutzend Klienten coacht sie regelmäßig. Mit Gruppen von fünf Personen macht Hötzl dreistündige "Waldtauchgänge", bei denen ihre Mitstreiter lernen, wie sie sich gezielt entspannen. Sie gibt gewissermaßen die Denkanstöße für den gezielten Blick ins Grüne.
Wissenschaftlich belegt ist inzwischen, dass der Aufenthalt im Wald den Blutdruck senkt, die Nerven entspannt, Ängste löst und bei Schlafstörungen hilft. Erfunden haben das "Waldbaden" die Japaner bereits in den 1980er Jahren. "Shinrin Yoku" hilft gestressten oder schlaflosen Städtern zu entspannen. Die Waldmedizin ist dort nach etlichen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirkung des Waldes seit 2012 an japanischen Universitäten ein eigener Forschungszweig, der sich mittlerweile auch in Deutschland entwickelt.
An der Universität Rostock wird an einem zertifizierten Ausbildungsgang zum Waldtherapeuten gearbeitet. Einen europaweit ersten staatlich anerkannten Kur- und Heilwald gibt es seit dem vergangenen Jahr auf der Ostseeinsel Usedom.
Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat rund 360.000 Euro investiert, um aus einem Wald nahe Heringsdorf ein Areal mit therapeutischer Wirkung zu machen, mit drei gekennzeichneten Heilwaldwegen, Infotafeln, einem Platz der Stille, Kletterparcours, Sensorik- und Motorikpfaden. "Das Angebot kommt bei Besuchern sehr gut an - ob nun als Therapie oder Gesundheitsvorsorge", sagt Projektleiterin Karin Lehmann. Für den von Kiefern und Buchen sowie der nahen Ostsee geprägte Wald gebe es sogar ein eigenes Klimagutachten.
Zudem sei er behindertengerecht gestaltet. "Unser Küstenwald ist wie eine Natur-Apotheke – er wirkt wie eine Sauerstofftherapie, senkt Puls und Blutdruck und aktiviert die körpereigenen Abwehrzellen", erklärt die Medizinerin. Drei weitere dieser Wälder sind aufgrund der guten Erfahrungen auf Usedom laut Bäderverband Mecklenburg-Vorpommern in dem nördlichen Bundesland geplant.
Auch Andrea Stein schwört mittlerweile auf die therapeutische Wirkung des Waldes. "Ich merke, dass ich tatsächlich die hier erlebte Ruhe mit in den Alltag nehme, gelassener bin und mit Stress besser umgehen kann." Wäre ihr jemand damit gekommen, sie müsse jetzt Bäume umarmen, hätte sie dankend abgelehnt, sagt Stein. "Mit Esoterik habe ich nichts am Hut." Das "Waldbaden" funktioniert laut Heilpraktikerin Hötzl zu jeder Zeit und in jedem Wald.