So bekämpfen wir das "Syndrom der dicken Akte"

Die genaue Abklärung von Symptomen und die Diagnosestellung nehmen bei seltenen Erkrankungen meist sehr viel Zeit in Anspruch. Zeit also für ein Umdenken und für neue Strukturen im Umgang mit seltenen Erkrankungen?

Interview mit PD Dr. Dorit Fabricius zum "Rare Disease Day"

Privatdozentin Dr. med. Dorit Fabricius arbeitet als Oberärztin am Zentrum für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Ulm in der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin. Zum Rare Disease Day spricht sie mit esanum über die Problematik bei Diagnose und Therapie von seltenen Erkrankungen.

esanum: Liebe Frau PD Dr. Fabricius, noch immer bekommen Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen oft erst spät eine Diagnose. Wie können wir diese Situation zukünftig verbessern?

Fabricius: Wir haben uns natürlich den Aktionsplan des nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit seltenen Erkrankungen zu Herzen genommen, um den Betroffenen schneller zu einer Diagnose zu verhelfen. Auf dieser Basis hat sich hier bei uns in Ulm auch so einiges getan. Konkret wurden am ZSE der Uniklinik Ulm einerseits 9 Fachzentren (B-Zentren) für bestimmte seltene Erkrankungen etabliert. Wir haben aber auch ein sogenanntes A-Zentrum, welches als Anlaufstelle für diejenigen Patientinnen und Patienten fungiert, die bisher noch keine Diagnose erhalten haben. Ganz wichtig ist darüber hinaus, dass wir Strukturen etabliert haben, um Patientenanfragen und Fälle schneller bearbeiten zu können. Bisher dauerte es oft mehrere Monate bis eine Antwort auf Anfragen kam. 

Die A- und auch die B-Zentren dienen intern der Vernetzung der einzelnen Fachdisziplinen und stehen ebenso im Kontakt mit anderen Zentren für seltene Erkrankungen (ZSE) in Deutschland, wodurch wir die Möglichkeit haben, interdisziplinär an den Patientenfällen zu arbeiten. Allerdings können wir nur in Ausnahmefällen persönliche Sprechstunden anbieten. Für das A-Zentrum haben wir derzeit noch gar keine Sprechzeiten etabliert, in den B-Zentren bieten wir für die jeweils dort behandelten seltenen Erkrankungen Sprechstunden an.

Viele Patientinnen und Patienten haben bereits eine wahre Odyssee an Arztbesuchen hinter sich, bevor sie zu uns kommen. Dementsprechend umfangreich und unübersichtlich ist auch die Patientenakte. Deswegen muss man ganz klar sagen, dass dies jede weitere ärztliche Beurteilung natürlich erschwert. Wir haben aber auf unserer Homepage Formulare vorbereitet, die die für uns relevanten Informationen abfragen und erfassen und die idealerweise gemeinsam mit dem Hausarzt bzw. einem Arzt des Vertrauens ausgefüllt werden. Nach dem Eintreffen der Patientendaten erstellen wir bei uns eine übersichtliche elektronische Patientenakte, damit nicht jeder Kollege / jede Kollegin immer wieder den Stapel an Befunden, Bildgebung und Behandlungsberichten durcharbeiten muss. Auf dieser Grundlage ist uns eine symptomorientierte Zuordnung möglich an eines der spezialisierten B-Zentren und bei Bedarf auch in weiteren Fachdisziplinen außerhalb der B-Zentren zur weiteren diagnostischen Abklärung.

In den dortigen Zentren oder Fachabteilungen erfolgt schließlich eine Begutachtung des Patientenmaterials und eine Beurteilung, inwiefern aufgrund der Berichte und Befunde ein Verdacht auf welche Art von seltener Erkrankung anzunehmen ist. Auf der Basis dieser Begutachtung wird dann beraten, ob sich der Patient / die Patientin im Zentrum vorstellen sollte und welche weiteren Diagnoseschritte dabei erfolgen müssten.

Aufgrund der Vorgeschichte vieler Patienten und des hohen Leidensdruckes lassen wir an der Uniklinik Ulm stets auch die Psychosomatik mit in die Betrachtungen einfließen – und zwar von Anfang an. Wir versuchen, unsere Patientinnen und Patienten gleich ab dem ersten Kontakt ganzheitlich zu betrachten.

esanum: Die Coronapandemie hat auch hierzulande viele medizinische Initiativen zurückgeworfen. Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf die Diagnosestellung ausgewählter seltener Erkrankungen?

Fabricius: Selbstverständlich erleben wir auch bei uns Personalengpässe und Krankenstände, wodurch vor allem die Akutmedizin stark betroffen war. Das ist richtig, dadurch haben sich auch Angebote in der Versorgung seltener Erkrankungen verschoben. Dennoch sind wir bemüht, die interdisziplinäre Sichtung der Patientenfälle auch in Pandemiezeiten zu gewährleisten. Insgesamt wäre die medizinische Versorgung natürlich deutlich besser, würden wir in unserer Arbeit nicht so eng getaktet sein und hätten wir etwas mehr Puffer, anstatt nur profitorientiert arbeiten zu müssen. Doch auch hier hoffe ich, dass langsam das Bewusstsein reift, dass eine medizinische Grundversorgung – ganz ähnlich Feuerwehr und Polizei – in unserer Gesellschaft einfach dazugehört.  

esanum: Was können Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen auch selbst tun, um schneller eine Diagnose zu bekommen? Und inwieweit müssen wir dafür auch noch die Hausärztinnen und Hausärzte weiter sensibilisieren?

Fabricius: Ich glaube, es ist besonders wichtig, dass Patienten sich einen Arzt oder eine Ärztin ihres Vertrauens suchen und dort besprechen, ob und wo eine Vorstellung an einem ZSE sinnvoll ist. Für Patienten sind gerade unklare Diagnosen sehr schwer einzuschätzen. Hier bedarf es der Unterstützung der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, die Situation richtig einzuschätzen und auch zielgerichtet zuzuweisen.

Ebenso können die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte die Patientinnen und Patienten dabei unterstützen, die Krankenakte entsprechend zu verschlanken und vorzubereiten. Wesentlich ist z. B., dass sich nur aktuelle Befunde in der Mappe befinden, die in der Regel nicht älter als 2 Jahre sind. Einmalig erfolgte Befundungen, wie beispielsweise genetische Untersuchungen, sollten indes immer mit beigelegt werden, damit die Fachkollegen hier die Relevanz und mögliche weitere Untersuchungen beurteilen können. Die Motivation bei der Anlage der Akte für den Patienten / die Patientin sollte stets sein: Je einfacher und übersichtlicher die Akte ist, desto schneller kann das ZSE den Fall beurteilen und darauf reagieren.

Ganz wichtig für die Patientinnen und Patienten ist zudem, dass sie sich, bevor etwas untersucht wird, immer versichern sollten, dass die erhobenen Befunde auch mit ihnen diskutiert werden. Wir erleben immer wieder, dass Patienten bei uns Anfragen stellen, z. B. mit Bildgebung und genetischen Befunden, wo die Bedeutung oder Relevanz dieser Befunde nie besprochen wurde. Daher auch der Aufruf an die Kolleginnen und Kollegen in der Niederlassung: Wenn man teure Untersuchungen vornimmt, dann muss man natürlich auch wissen, wie man die Befunde interpretiert und welche Konsequenzen sie haben.

Und letztlich, um langfristig die Versorgung zu verbessern, sollten sich Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen in Selbsthilfegruppen organisieren, um so auch Einfluss auf die Politik nehmen zu können, und beispielsweise die Finanzierung von mehr Personal in den Zentren zu erwirken.

Unsere Beiträge zum Rare Disease Day 2022 im Überblick: