Viele Antidepressiva wirken bei Kindern und Jugendlichen kaum

Kinder und Jugendliche mit einer schweren Depression profitieren nicht von der Mehrzahl der antidepressiv wirkenden Medikamente, und einige dieser Wirkstoffe bewirken möglicherweise mehr Schaden, als dass sie Linderung verschaffen.

Kinder und Jugendliche mit einer schweren Depression profitieren nicht von der Mehrzahl der antidepressiv wirkenden Medikamente, und einige dieser Wirkstoffe bewirken möglicherweise mehr Schaden, als dass sie Linderung verschaffen.

Das ist die Schlussfolgerung aus einer neuen Studie, die im Journal The Lancet veröffentlicht wurde.

Von einer schweren Depression – im Englischen Major Depressive Disorder (MMD) – sind in den Vereinigten Staaten von Amerika laut den Autoren der Studie schätzungsweise 2,8% der Kinder im Alter zwischen sechs und 12 Jahren und 5,6% der Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren betroffen. Normalerweise wird diese Diagnose gestellt, wenn ein Kind oder Jugendlicher für mehr als zwei Wochen unter depressiven Symptomen leidet. Zu diesen Symptomen zählen Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Änderungen des Essverhaltens, häufige Traurigkeit und Weinen, ein mangelndes Selbstwertgefühl sowie Nachdenken über den Tod bis hin zu Suizidgedanken.

Für Kinder und Jugendliche mit einer schweren Depression empfehlen die meisten klinischen Leitlinien eine kognitive Verhaltenstherapie und andere Formen der Psychotherapie als Erstlinien-Therapie. Der leitende Studienautor jedoch, Dr. Andrea Cipriani von der Universität in Oxford im Vereinigten Königreich, und seine Kollegen stellen fest, dass einer kontinuierlich wachsenden Anzahl von jungen Patienten mit schweren Depressionen Antidepressiva verordnet werden.

Mit Verweis auf eine Studie, die zu Beginn des Jahres veröffentlicht wurde, erklären sie, dass in den USA der Anteil an Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 19 Jahren, die Antidepressiva einnehmen, im Zeitraum von 2005 bis 2012 von 1,3% auf 1,6% angestiegen sei.

Diese Entwicklung hat trotz der Warnung durch die U.S. Food and Drug Administration (FDA) vor dem Einsatz antidepressiv wirkender Medikationen an Kindern und Jugendlichen aus dem Jahr 2004 stattgefunden, nachdem aus Studien hervorgegangen war, dass Kinder und Jugendliche unter antidepressiver Medikation einem erhöhten Suizidrisiko unterliegen.

“In der Folge wird die Frage, ob antidepressiv wirkende Substanzen zur Therapie schwerer Depressionen bei jungen Patienten eingesetzt werden sollten, und wenn ja, welche Antidepressiva bevorzugt zu verordnen seien, weiter kontrovers diskutiert.”, erklären die Autoren.

Rangliste für die Wirksamkeit von Antidepressiva nach vier Kriterien

Im Rahmen ihrer Studie setzten sich die Wissenschaftler das Ziel, zu prüfen, ob die Vorteile einer antidepressiven Medikation bei Jugendlichen mit schwerer Depression gegenüber den entstehenden Risiken überwiegen würden.

Das Team erstellte einen systematischen Review und eine Meta-Analyse über alle publizierten und unveröffentlichten, doppelt verblindeten, randomisiert kontrollierten Studien bis einschließlich März 2015, die die Behandlung schwerer Depressionen bei Kindern und Jugendlichen untersuchten.

Die Studien, die in die Meta-Analyse eingeschlossen wurden, beurteilten die Wirksamkeit von 14 antidepressiv wirkenden Medikamenten, und das Team erstellte eine Rangliste zur Wirksamkeit jedes einzelnen Medikaments unter Berücksichtigung folgender vier Kriterien:

Die Wissenschaftler bewerteten die Qualität jeder einzelnen Studie – dem zugrunde lag das sogenannte Cochrane risk of bias. Darüber hinaus wurde mithilfe des GRADE frameworks die Qualität der Evidenz jeder Studie insgesamt beurteilt.

Allein Fluoxetin bot mehr Vorteile als Risiken

Von den Studien, die in die Analyse eingeschlossen wurden, wurden 65% von pharmazeutischen Unternehmen finanziert, 29% wurden als mit einem hohen Risiko für Bias behaftet eingestuft, 59% unterlagen einem mittleren Bias-Risiko und 12% zeigten ein niedriges Risiko für Bias.

In 34 der Studien – einschließlich 5260 Teilnehmern von durchschnittlich 9 bis 18 Jahren – konnten die Forscher nur ein Antidepressivum identifizieren, Fluoxetin, für das hinsichtlich der Parameter Wirksamkeit und Verträglichkeit ein Überwiegen des Nutzens gegenüber dem Risikopotential konstatiert werden konnte.

Verglichen mit Placebos und sieben anderen Antidepressiva wurde Nortriptylin als weniger wirksam eingestuft. Die Antidepressiva Imipramin, Venlafaxin und Duloxetin schnitten am schlechtesten bezüglich ihrer Verträglichkeit ab, fanden die Forscher heraus; diese Präparate veranlassten die Patienten weitaus häufiger zum Absetzen der Medikation als dies unter Placebo-Einnahme der Fall war.

Verglichen mit Placebos und fünf anderen antidepressiv wirksamen Medikamenten steigerte Venlafaxin das Risiko für suizidale Gedanken ebenso wie für Suizidversuche. Diese Ergebnisse, erklären die Autoren, legen nahe, dass die breite Masse der Antidepressiva für Kinder und Jugendliche mit schweren Depressionen unwirksam sind und dass viele von ihnen sogar gefährlich sein können. “Der Balanceakt zwischen Risiko und Nutzen einer antidepressiven Medikation bei schwerer Depression scheint bei Kindern und Jugendlichen keinen eindeutigen Vorteil zu bieten. Die einzige Ausnahme scheint hier Fluoxetin zu sein. Wir empfehlen, dass Kinder und Jugendliche unter antidepressiver Medikation engmaschig überwacht werden, ungeachtet dessen, welches Antidepressivum verordnet wurde, und zwar ganz besonders zu Beginn der Therapie.”

Mangel an seriösen Daten kompromittiert Studienergebnisse

Die Wissenschaftler stellen fest, dass es ihnen nicht gelang, das Suizidrisiko für alle Antidepressiva zu beurteilen, weil es nur ungenügend zuverlässige Daten gab.

Darüber hinaus war die Qualität der Evidenz für den primären Endpunkt in den meisten Studien sehr niedrig, was eine Beschränkung für eine mögliche Integration der Studienergebnisse in die klinische Praxis bewirkt, bemängeln die Wissenschaftler.

“Ohne Zugang zu individuellen Patienten-Daten ist es schwierig, akkurate Aussagen zur Wirksamkeit von Medikamenten zu generieren, und wir können uns der Korrektheit der Ergebnisse aus veröffentlichten und unveröffentlichten Studien niemals 100%ig sicher sein.”, so Dr. Capriani.

In einem begleitenden Leitartikel spekuliert Dr. Jon Jureidini von der Universität von Adelaide in Australien, dass möglicherweise mehr suizidale Handlungen unter antidepressiver Medikation zu verzeichnen wären, wenn die Wissenschaftler Zugang zu individuellen Patientendaten hätten. Zur Untermauerung seiner Argumentation führt er beispielhaft an, dass in vier Studien, die das Antidepressivum Paroxetin mit Placebos verglichen, nur 13 (3 Prozent) von 413 suizidalen Handlungen in der entsprechenden Gruppe gemeldet wurden.

“Das scheint nicht plausibel, wenn man bedenkt, dass bei der Reevaluierung der Ergebnisse mit individuellen Patienten-Daten von nur einer einzigen dieser Studien herauskam, dass es zu 10 suizidalen Handlungen in einer Gruppe von nur 93 Patienten mit Paroxetin-Medikation kam (10,8%).“, fügt er hinzu.

Dr. Jureidini sagt, er halte es für möglich, dass Antidepressiva gefährlicher und weniger wirksam für Kinder und Jugendliche sind, als diese unkorrekt durchgeführten Studien uns glauben machen wollen.

“Wir Ärzte und Wissenschaftler versäumen es, unserer Verpflichtung zur Suche nach Studienteilnehmern und Patienten nachzukommen, und wir werden letztlich nur erfolgreich sein, wenn unabhängige Wissenschaftler wie zum Beispiel Capriani und seine Kollegen in die Lage versetzt werden, individuelle Patientendaten auszuwerten”, erklärt er. Gegen Behauptungen die , dass ein angemessener Zugang zu solchen Daten inkompatibel mit der Wahrung geistigen Eigentums sowie dem Schutz der Privatsphäre des Patienten sei, müsse man sich energisch zur Wehr setzen.