Blick nach vorn: auf Coronavirus und vertrauenswürdige Evidenz

Zu Beginn des neuen Jahres hoffen wir, dass eine Epidemie ausbleibt und eine fundamentale Reform in Bewegung kommt.

Zu Beginn des neuen Jahres hoffen wir, dass eine Epidemie ausbleibt und eine fundamentale Reform in Bewegung kommt.

Nach dem Rückblick aufs vergangene Jahr geht der Blick nach vorn auf das gerade begonnene – und nach China, wo das Neujahrsfest erst am 25. Januar beginnt. Aus dem Land der Morgenröte wurde nun der erste Todesfall infolge einer Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus vermeldet, das bisher bei 41 Menschen für eine rätselhafte Lungenerkrankung verantwortlich gemacht wird. Bei der offiziell als "virale Lungenentzündung unbekannter Ursache" deklarierten Krankheit handelt es sich laut der örtlichen Gesundheitskommission nicht um Grippe, Vogelgrippe, MERS oder SARS.

Neues Coronavirus ist mit SARS-Erreger verwandt

Bislang beschränkt sich der Ausbruch offenbar auf die zentralchinesische Millionenstadt Wuhan. Als Infektionsquelle wird der seit dem 1. Januar geschlossene Huanan-Markt vermutet, auf dem neben Fischen auch andere (Wild-) Tiere verkauft wurden. Die Gensequenzierung hat laut aerzteblatt.de eine nahe Verwandtschaft von "WH-Human_1" mit den SARS-Coronaviren ergeben. Bei der SARS-Epidemie starben vor 17 Jahren 774 Menschen.

CDC-Empfehlungen für Vorsichtsmaßnahmen

Bisher fehlen Beweise für eine Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch. Die WHO hat vorerst auf eine Reisewarnung und auf die Empfehlung spezifischer Gesundheitsmaßnahmen für Reisende verzichtet. Die U.S. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) raten in einer Level-1-Warnung Wuhan-Reisenden zu üblichen Vorsichtsmaßnahmen: Tiermärkte und den Kontakt mit Tieren und Tierprodukten wie ungekochtem Fleisch meiden, kranken Personen aus dem Weg gehen und die Hände häufig mit Seife und Wasser waschen. Nach einem Aufenthalt in Wuhan ist bei einem sich einstellenden Krankheitsgefühl umgehend medizinische Hilfe angesagt und der Kontakt mit anderen zu vermeiden. Vor dem Aufsuchen ärztlicher Hilfe ist die Praxis oder Klinik über die Reise und die Symptome zu unterrichten, heißt es auf der CDC-Website.

Beim Reiseziel "Wuhan" (oder weiter gefasst "China") sollte man bei Patienten also hellhörig werden. Die Inkubationszeit beträgt bei einer Infektion mit Coronaviren 1–2 Wochen, der bislang letzte Krankheitsausbruch datiert vom 2. Januar. Keine neuen Erkrankungsfälle in den nächsten Tagen wären also eine sehr gute (Nicht-) Nachricht.

Forschung und ihre Finanzierung: Ist ein Systemwandel erforderlich?

Ein anderer Blick nach vorn gilt dem Thema "Forschung und ihre Finanzierung". In unserem ersten Blogbeitrag des Jahres hatten wir die FDA-Zulassung eines neuen Wirkstoffs (Pretomanid) zur Behandlung bei extrem resistenter Tuberkulose erwähnt, um die sich mit der TB Alliance eine Non-Profit-Organisation bemüht hat. Zur internationalen Riege der öffentlichen und privaten Geldgeber der gemeinnützigen Produktentwicklungspartnerschaft gehört auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Ein Novum – und Beispiel für eine "Entkommerzialisierung" in der Medizin, wie sie in einer BMJ-Publikation1 Anfang Dezember gefordert wurde?

Im internationalen Autorenteam aus "einflussreichen Forschern, Ärzten, Regulierern und Bürgeranwälten" fungiert die BMJ-Chefredakteurin Dr. Fiona Godlee als Letztautorin. Von deutscher Seite ist Dr. Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung beim IQWiG, beteiligt. Unter dem Titel "Pfade zur Unabhängigkeit: hin zum Produzieren und Nutzen vertrauenswürdiger Evidenz" setzt sich der Beitrag mit Problemen der finanziellen Abhängigkeit von kommerziellen Unternehmen in Forschung, Aus-/Weiter-/Fortbildung und Praxis auseinander. Die Problematik dürfte uns allen bekannt sein.

Entflechtung von Entscheidungsträgern und Gesundheitsindustrie gefordert

Die Autoren fordern die Entflechtung von Entscheidungsträgern und Gesundheitsindustrie auf allen Ebenen – also eine fundamentale Reform. Sie weisen auch auf die zunehmende Wahrnehmung einer Überdiagnostik und Übertherapie hin, durch die Ressourcen verschwendet, individuelle Gesundheitsschäden verursacht und die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitssystems gefährdet werden. Mit ihren Vorschlägen für alternative Vorgehensweisen auf der Basis von Evidenz und praktischen Beispielen wollen die Autoren die Entwicklung detaillierter Empfehlungen anregen und katalysieren. Außerdem rufen sie zu einem "call to action" auf, an dem man sich hier beteiligen kann.

Dass es systemische Schiefstände gibt, die einer fundamentalen Korrektur bedürfen, sehen wir auch so. Die Forderung, dass die wissenschaftliche Evaluation von Tests und Therapien und die Verbreitung der resultierenden Evidenz industrieunabhängig erfolgen sollte, ist naheliegend und unterstützenswert.

Öffentliche Mittel fallen nicht vom Himmel

Allerdings scheint gerade die (gesamt-, gesundheits- und standes-) politisch motivierte Regulierung auf den diversen Ebenen häufig eher ein Teil des Problems als der Lösung zu sein. Zudem müssen die öffentlichen Mittel, nach denen gerne – und auch in diesem Fall – gerufen wird, zunächst einmal von steuerzahlenden Unternehmen, Selbständigen und Freiberuflern erwirtschaftet werden. Hier muss man wohl etwas tiefer bohren und ansetzen, damit die "ökonomischen Interessen" die positive Konnotation bekommen können, die ihnen eigentlich zusteht. Es geht darum, eine gesunde Wertschöpfung zu ermöglichen, zu betreiben und zu fördern.

Referenzen:
1. Moynihan R et al. Pathways to independence: towards producing and using trustworthy evidence. BMJ 2019;367:l6576. doi:10.1136/bmj.l6576