Nikotinintoxikationen – wieder aktuell?

Nikotinvergiftungen haben stetig zugenommen. Die immer populärer gewordenen E-Zigaretten und flüssiges Nikotin sind für einen relevanten Anteil der Fälle verantwortlich.

Nikotinvergiftungen haben stetig zugenommen. Die immer populärer gewordenen E-Zigaretten und flüssiges Nikotin sind für einen relevanten Anteil der Fälle verantwortlich.

Nach Untersuchungen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) stieg die Zahl der Anrufe bei Giftnotrufzentralen wegen Nikotinvergiftungen von 1 pro Monat im September 2010 auf 215 pro Monat im Februar 2014. Die Zahl der Anrufe wegen Nikotinvergiftungen durch herkömmliche Zigaretten hat sich hierbei nicht verändert.1,2

Die toxische Natur eines natürlich vorkommenden Alkaloids

Eine Überdosierung verläuft in mehreren Phasen. Innerhalb der ersten 15 bis 60 Minuten nach Exposition treten Symptome auf, die mit der stimulierenden Wirkung des Nikotins zu tun haben. Dazu gehören unter anderem Hypersalivation, Übelkeit und Erbrechen, Magen- und Kopfschmerzen, Dehydrierung, Schwindel, Zittern, Angstzustände, Verwirrung, Schwitzen, Tachypnoe, Tachykardie und Hypertonus.
Über die folgenden Stunden bekommen wir es dann mit den depressorischen Effekten von Nikotin zu tun: Hypotonie, Bradykardie, flache Atmung, Diarrhöe, Müdigkeit, Schwäche, bei schweren Intoxikationen bis hin zu Krampfanfällen, Bewusstseinsverlust und Atemstillstand.2 

Ein offenbar nichtsahnender Nutzer schreibt in einem Forum: "Eine Nikotinvergiftung wird schlimmstenfalls dazu führen, dass Sie sich übergeben müssen, bevor ein wirklicher Schaden eintritt."3 Dem hätte bereits der Belgier Gustave Fougnies widersprochen. Aufgrund einer großen Erbschaft wurde er 1850 von seiner Schwester und deren Ehemann mit selbst destilliertem reinem Nikotin ermordet. Dieses wurde gewählt, weil es damals noch keine Verfahren gab, um dieses schnell wirkende, höchst tödliche Gift im Körper eines Verstorbenen nachzuweisen (wie andere Pflanzengifte auch, zum Beispiel Morphin). Doch die vorangehende Beschaffung erheblicher Mengen von Tabakblättern war einigen Dienstboten ebenso wenig verborgen geblieben wie der Umstand, dass das Gesicht des Toten Prellungen und Schnittwunden aufwies und von einer ätzenden Substanz verbrannt zu sein schien (reines Nikotin ist in der Tat ätzend). Mithilfe des besten Chemikers des Landes und der anlässlich dieses Falles erstmals angewendeten Stas-Otto-Methode konnte die Vergiftung zweifelsfrei nachgewiesen werden – dies markierte gewissermaßen die Geburtsstunde der modernen forensischen Chemie und Toxikologie.4

Nikotin damals und heute

Das Internationale Studienprogramm für Chemikaliensicherheit (IPCS) merkt zum primären Alkaloid der Tabakpflanze an: "Nikotin ist eines der giftigsten aller Gifte und hat einen schnellen Wirkungseintritt. Abgesehen von lokalen Verätzungen sind die Zielorgane das periphere und das zentrale Nervensystem." Eingeatmet braucht es etwa sieben Sekunden von der Lunge zum Gehirn.4 Eine vollständig gerauchte Zigarette gibt etwa 1–2 mg Nikotin an die Lunge ab; die geschätzte letale Dosis liegt bei 30–60 mg (oder 10 ml nikotinhaltiger Flüssigkeit einer E-Zigarette), wenngleich es auch Berichte von Menschen gibt, die höhere Dosen überlebt haben.4,5 Todesfälle sind glücklicherweise selten.

Im 19. Jahrhundert waren die neurotoxischen Eigenschaften natürlich nicht verstanden. Aber es war bekannt, dass es ein Gift ist, welches Menschen, "Haustiere" und Schädlinge gleichermaßen tötet. Ab dem 18. Jahrhundert war Nikotin ein sehr beliebtes Insektizid. Diese Verwendung ist teils heute noch anzutreffen, obwohl reine Nikotin-Pestizide aufgrund ihrer Breitbandtoxizität allmählich aus dem Verkehr gezogen wurden. Ihre Nachfolger, die Neonicotinoid-Pestizide (die eine chemisch ähnliche, aber theoretisch weniger gefährliche Struktur haben), stehen inzwischen unter Beschuss, da sie zum weit verbreiteten Sterben von Bienenvölkern beitragen. Reine Nikotingifte sind von der US-Regierung für Biobauern zur Bekämpfung von Insektenbefall zugelassen, da sie auf der Pflanzenchemie basieren. Dieselben Pestizide sind gelegentlich in neueren Morduntersuchungen und in einem verstörenden Massenvergiftungsfall im Jahr 2003 in Michigan aufgetaucht.4

Wie kann eine Überdosierung mit Nikotin passieren?

Doch auch in weniger schaurigen Situationen können sich Menschen mit Nikotin überdosieren. Besonders gefährdet sind Kinder. Vergiftungen durch herkömmliche Zigaretten kommen meist dadurch zustande, dass kleine Kinder sie essen. Ein Zigarettenstummel enthält genug Nikotin, um für ein kleines Kind gefährlich zu werden. Ein älteres Kind, das mit Kautabak experimentiert, kann ebenfalls eine toxische Dosis aufnehmen. Vergiftungen durch die nikotinhaltige Flüssigkeit in E-Zigaretten können durch Verschlucken, Einatmen oder Aufnahme über die Haut oder die Augen entstehen. Die Liquids werden oft in bunten Verpackungen mit süßen Aromen und Bildern von Früchten und Desserts angeboten, was ein Kleinkind zum Probieren verleiten könnte. Ein kleiner Schluck kann bereits zu ernsten Problem führen, denn mehr als 99% der in E-Zigaretten verwendeten Flüssigkeiten enthalten Nikotin sowie Hunderte anderer Chemikalien.6 Der eingangs genannten Auswertung der CDC-Daten zufolge entfielen 51% der Giftnotrufe wegen Nikotinintoxikationen auf Kinder unter 5 Jahren.1 

Auch Erwachsene trifft es: einen der derzeit gefragtesten Schauspieler gleich drei Mal in kurzer Zeit. Für seine Rolle als kettenrauchender Rancher in dem Film "The Power of the Dog" ging Benedict Cumberbatch soweit, Zigaretten in großen Mengen zu drehen und in zahllosen Takes zu rauchen, so wie es in der Romanvorlage des 1920er Westerns fixiert war. So viele filterlose Selbstgedrehte am laufenden Band zu rauchen, war "schrecklich", sagt Cumberbatch.5,7 Das erinnert ein wenig an die Szene in BBCs 'Sherlock', in der wir ihn mit drei Nikotinpflastern auf dem Unterarm sahen (auch für die Rolle). Intoxikationen durch Nikotinpflaster sind allerdings eine Rarität – vorausgesetzt, dass die Anwendungshinweise befolgt und nicht zusätzlich Zigaretten geraucht werden.
Menschen, die das Rauchen nicht gewöhnt sind, haben generell ein größeres Risiko, eine Vergiftung davonzutragen, vor allem, wenn sie Vaping ausprobieren. Auch beim Kauen oder Schnupfen von Tabak wird in der Regel mehr Nikotin an den Körper abgegeben als beim Rauchen.2

Die transkutane Aufnahme scheint jedoch zuweilen unterschätzt zu werden. In einem Technikforum tauschten sich Computertechniker darüber aus, wie die Geräte von Kettenrauchern aussehen, wenn sie zum Service gebracht werden: oft sind exponierte Bauteile zugesetzt von einer braungelben, zuweilen dicken Schicht aus Rückständen des Zigarettenrauches. Diese vertesteten Teile mit Alkohol abzuwischen, ist eine gute Tat, die Geräte waren tatsächlich kaum wiederzuerkennen, jedoch ist es dringend angezeigt, dabei Handschuhe zu tragen. "Wenn man Nikotin und Alkohol über die Hände aufnimmt, bekommt man die schlimmsten Angstzustände, die man je erlebt hat. Jetzt trage ich immer Handschuhe", schreibt ein Nutzer.3
In die gleiche Kategorie fallen Erntehelfer auf Tabakplantagen, die ebenfalls über Vergiftungserscheinungen berichten, wenn sie über einen ganzen Arbeitstag hinweg Blätter abzupfen und keine Handschuhe tragen. Dies wird als Green Tobacco Sickness (GTS) bezeichnet.

Referenzen:
1. New CDC study finds dramatic increase in e-cigarette-related calls to poison centers. CDC https://www.cdc.gov/media/releases/2014/p0403-e-cigarette-poison.html (2016).
2. Nicotine poisoning symptoms: Can you overdose on too much nicotine? https://www.medicalnewstoday.com/articles/319627 (2017).
3. PoisonousVibes. Chainsmokers laptop after 3 months. r/techsupportgore www.reddit.com/r/techsupportgore/comments/lphejc/chainsmokers_laptop_after_3_months_came_in_for/ (2021).
4. Blum, D. Nicotine and the Chemistry of Murder. Wired https://www.wired.com/2012/05/nicotine-and-the-chemistry-of-murder/.
5. Benedict Cumberbatch’s Nicotine Poisoning. https://www.medpagetoday.com/popmedicine/celebritydiagnosis/95724 (2021).
6. University, W. S. Poison Center issues warning about liquid nicotine poisonings. School of Medicine News https://today.wayne.edu/medicine/news/2020/11/16/poison-center-issues-warning-about-liquid-nicotine-poisonings-40930 (2019).
7. Hayward, C. Benedict Cumberbatch Needs to Work on His Banjo Game. Esquire https://www.esquire.com/uk/culture/a38145013/benedict-cumberbatch-interview/ (2021).