Bari, 1943. Ein weniger bekannter Vorfall des Krieges und wie dieser die komplizierten Anfänge der Chemotherapie einläutete.
Das im Herbst 2020 erschienene Buch "The Great Secret: The Classified World War II Disaster that Launched the War on Cancer" erzählt die Geschichte einer über viele Jahre vertuschten Chemiewaffenkatastrophe und wie diese einen amerikanischen Militärarzt auf eine Entdeckung hinführte, die in der ersten Chemotherapie mündete.1
Die Autorin, Jennet Conant, ist eine amerikanische Sachbuchautorin und Journalistin. Es ist ihr sechstes Buch über den Zweiten Weltkrieg und vier ihrer Werke haben es zuvor bereits auf die New York Times-Bestsellerliste geschafft.
Alles begann mit einem Überraschungsangriff der Deutschen Luftwaffe auf den Hafen von Bari, Apulien, im Dezember 1943. Tausende Soldaten und hunderte Zivilisten kamen ums Leben, dutzende Schiffe wurden versenkt oder beschädigt. Unter diesen Schiffen war die John Harvey, ein amerikanisches Liberty-Schiff mit einer streng geheimen Fracht: 2.000 Senfgasbomben, die als Vergeltungsmaßnahme gedacht waren, sollten die Deutschen zum Gaskrieg greifen.
Hunderte Überlebende begannen, erst nach dem Angriff, plötzlich mysteriöse Symptome, wie Blindheit und Verätzungen, zu entwickeln und viele verstarben, weshalb ein Mitglied des medizinischen Stabs des Alliierten Oberbefehlshabers General Eisenhower, Dr. Stewart Francis Alexander, zur Untersuchung des Vorfalls nach Süditalien geschickt wurde.
Obwohl Dr. Alexander nichts von der Fracht wusste, kam er relativ schnell zu dem Schluss, dass Senfgas anwesend war. Doch da das 1925 unterzeichnete Genfer Protokoll den Einsatz chemischer und biologischer Kampfstoffe im Krieg untersagte, waren Churchill und Eisenhower entschlossen, die Beteiligung von Giftgas bei der Katastrophe zu vertuschen.
"Tiefgründig recherchiert und wunderschön geschrieben, ist The Great Secret die bemerkenswerte Geschichte, wie aus einer schrecklichen Tragödie ein medizinischer Triumph entstand"
Durch die Beschädigung des Frachters war flüssiges Senfgas (Schwefellost) aus den Bomben ins Wasser gelangt, welches bereits voller Öl der anderen zerstörten Schiffe war. Viele Matrosen, die ihre Schiffe verlassen hatten, wurden mit dem öligen Gemisch bedeckt, welches ein ideales Lösungsmittel für den Schwefelsenf darstellte. Ein Teil davon verdampfte und vermischte sich mit den Rauch- und Flammenwolken. Die Verwundeten wurden aus dem Wasser gezogen und in medizinische Einrichtungen gebracht, deren Personal nichts von dem Senfgas ahnte. Man konzentrierte sich auf Patienten mit Explosions- oder Brandverletzungen und schenkte denjenigen, die lediglich mit Öl bedeckt waren, wenig Aufmerksamkeit. Viele Folgen einer längeren Exposition hätten durch ein Bad oder einen Kleidungswechsel verringert werden können.
Innerhalb eines Tages traten bei 628 Patienten und medizinischem Personal die ersten Symptome einer Senfgasvergiftung auf. Die meisten Opfer litten unter atypischen Symptomen (hervorgerufen durch die Exposition mit in Wasser und Öl verdünntem Gift, im Gegensatz zu in Luft). Diese rätselhafte Entwicklung wurde durch die Ankunft hunderter italienischer Zivilisten im Krankenhaus weiter verkompliziert, die durch eine über die Stadt wehende Wolke aus Senfgas-Dampf vergiftet worden waren, nachdem ein Teil der Ladung der John Harvey explodiert war.2
Dr. Alexander widersetzte sich den britischen Hafenbeamten und setzte seine Untersuchung heldenhaft fort. Obwohl er keine Zustimmung von seinen Befehlshabern erhalten konnte, überzeugte er die Mediziner, die Patienten auf Senfgasexposition zu behandeln und rettete dadurch viele Leben. Er konservierte auch viele Gewebeproben von obduzierten Opfern. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten diese Proben zur Entwicklung einer frühen Form der Chemotherapie mit einer vom Schwefellost abgeleiteten Verbindung führen, Mustin.2
Dr. Alexanders Abschlussbericht über die Bari-Opfer wurde sofort unter Verschluss genommen, aber nicht bevor seine bahnbrechenden Beobachtungen über die toxische Wirkung von Schwefellost auf weiße Blutkörperchen und andere sich schnell teilende Zellen die Aufmerksamkeit eines Arztes und Forschers erregten. Colonel Cornelius P. Rhoads erkannte, dass das Gift sowohl ein Killer als auch ein Heilmittel war und leitete eine neue Ära der Krebsforschung ein, die vom Sloan Kettering Institute angeführt wurde.
General Eisenhower billigte schließlich Dr. Alexanders Bericht, Churchill ordnete jedoch an, alle britischen Dokumente zu bereinigen. Senfgas-Todesfälle wurden als "Verbrennungen durch Feindeinwirkung" beschrieben. Bis 1959 blieb der Bari-Zwischenfall in militärische Geheimhaltung gehüllt, was zu verlorenen Aufzeichnungen, Fehlinformationen und erheblicher Unklarheit darüber führte, wie eine tödliche chemische Waffe für den medizinischen Gebrauch gezähmt werden konnte.
"Die Krebsforschung wird oft als altruistisches und edles Unterfangen angesehen, und ihre Geschichte ist voll von Helden, wie Marie Curie, und Schurken, wie Big Pharma. Die Wahrheit ist weitaus vielschichtiger, und Jennet Conant liefert in "The Great Secret" einen gründlich recherchierten Bericht über die Ursprünge der Chemotherapie", kommentiert eine langjährige Redakteurin im Lancet.3
Referenzen:
1. Jennet Conant. https://jennetconant.com/.
2. Air raid on Bari. Wikipedia https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Air_raid_on_Bari&oldid=999201618 (2021).
3. Lokody, I. The Great Secret: chemotherapy’s fiery birth. The Lancet Oncology 22, 437 (2021).