Kardiotoxizität von Ibrutinib – Postmarketing-Studien jetzt dringend nötig

Ein Abriss der Evidenzlage wirft Fragen auf, die dringende Untersuchung erfordern.

Ein Abriss der Evidenzlage wirft Fragen auf, die dringende Untersuchung erfordern.

Der 2013 zugelassene Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitor Ibrutinib (Handelsname: Imbruvica®) hat die Therapie von B‑Zell-Neoplasien revolutioniert.
Doch bereits frühe Daten deuteten auf eine Assoziation mit Vorhofflimmern und Blutungen hin, später traten Berichte über supraventrikuläre Arrhythmien und lebensbedrohliche ventrikuläre Arrhythmien hinzu.1 Die kardiotoxischen Eigenschaften sind vermutlich mit einer Off-target-Inhibition einer anderen Kinase zu erklären.
2018 erschien im New England Journal of Medicine eine randomisierte Phase‑II-Studie, die Ibrutinib als Erstlinientherapie bei älteren Patienten mit CLL untersuchte.2 In dieser zeigte sich unter Therapie mit Ibrutinib eine erhöhte Sterberate (7%) im Vergleich zum konventionellen Chemotherapie-Arm (1%). Viele der Todesfälle waren kardialer Natur oder "unerklärte/ unbeobachtete Todesfälle".

Daten hätten "die Alarmglocken angehen lassen müssen"

Eine Auswertung von Real World-Daten aus dem 'VigiBase'-Register der WHO – welche als größte Datenbank ihrer Art über 20 Mio. Berichte zur Pharmakovigilanz aus über 130 Ländern enthält – hätte schließlich 2019 bei der amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde FDA "die Alarmglocken angehen lassen müssen", beginnt ein aktueller Kommentar im JAMA Oncology (Journal of the American Medical Association).3

Das Ausmaß kardiovaskulärer Toxizitäten bei Patienten außerhalb klinischer Studien war bis dahin unklar. In die Analyse gingen (Stand Januar 2018) 13.572 Berichte von mit Ibrutinib Behandelten ein, zumeist von CLL-Patienten. Fast alle (97%) der berichteten Ereignisse stammten aus den Jahren 2015 bis 2017, darunter 303 mit Ibrutinib assoziierte Todesfälle.
Das Alter der Verstorbenen lag im Median in den niedrigen 70ern, also etwas älter als in den klinischen Studien – wie es oft der Fall ist, wenn Krebsmedikamente von streng selektierten Studienpopulationen in die breitere Anwendung gehen.
Von allen Todesfällen waren 103 durch Arrhythmien und 90 durch ZNS-Blutungen bedingt. Leitungsstörungen (meist hochgradige AV-Blöcke) fielen ebenfalls ins Auge. Diese zuvor nicht berichtete Komplikation trat teils ab der ersten Dosis ein (im Median nach 27,5 Tagen) und ging mit einer Mortalitätsrate von 18% einher (9 Todesfälle).

Im Einklang mit diesen Signalen zeigte eine präklinische Studie 2019 eine dosisabhängige Abnahme der Aktionspotenzial-Dauer und der Funktionsfähigkeit von Kardiomyozyten durch Ibrutinib.4

Macht die Dosis das Gift?

"Diese erhöhte Rate schwerer Komplikationen und Todesfälle könnte zu einem Teil durch eine unnötig hohe Dosierung des Wirkstoffes verursacht sein, wie sie von den Regulierungsbehörden zugelassen und daher für multiple Indikationen von Hämatologen und Onkologen weltweit verordnet wurde", schreibt Prof. Mark J. Ratain, Onkologe und Spezialist für klinische Pharmakologie, in dem vor wenigen Tagen im JAMA erschienenen Kommentar.3

Auf Basis einer kleinen Phase‑I-Studie erhielt Ibrutinib 2013 erstmals die FDA‑Zulassung für die Therapie des Mantelzell-Lymphoms mit einer Dosierung von 560 mg/d. Seither sind Zulassungen für weitere Indikationen mit einer Dosis von 420 mg/d hinzu gekommen, darunter chronische lymphatische Leukämie, M. Waldenström, Marginalzonenlymphom und chronische Graft-versus-host Erkrankung.
Im Gutachten zum ursprünglichen Zulassungsantrag merkte die FDA an, dass die Target-Sättigung bei etwa 2,5 mg/kg ein Plateau erreicht, also bei höheren Dosen nicht weiter ansteigt. "Wir empfehlen die Evaluation niedrigerer Dosen [...], da Daten der Phase‑I-Studie PCYC-04753 gezeigt haben, dass die maximale BTK‑Belegung und das maximale Ansprechen bei Dosen von 2,5 mg/kg erreicht wurden", hieß es im Kommentar der Gutachter.
Dem zum Trotz beantragte (und erhielt) der Hersteller die Zulassung für eine Dosierung von 560 mg/d (etwa 8 mg/kg) und bei späteren Zulassungen für 420 mg/d (etwa 6 mg/kg) und führte keinerlei zusätzliche Studien zu niedrigeren Dosierungen durch.

Studie zu den Effekten und Toxizitäten niedrigerer Dosen – wann, wenn nicht jetzt?

In einer kleinen Pilotstudie 2018 waren keine Abstriche hinsichtlich BTK-Bindung und antileukämischer Wirksamkeit durch Reduzierung der Dosis zu beobachten.5 Auch in einer aktuellen Studie mit 209 CLL‑Patienten schienen niedrigere Dosierungen (240, 140 mg/d und weniger) die Überlebenszeit nicht zu beeinflussen.6 Was mit der Dosis allerdings abnahm, waren die unerwünschten Wirkungen auf die Plättchenaggregation.

"Es ist nicht klar, ob eine niedrigere Dosis die kardiovaskuläre Sterberate minimiert; anfällige Patienten haben möglicherweise die gleichen Komplikationen, unabhängig von der Dosis", gibt Ratain zu bedenken. Dies sollte eine Studie beantworten, die die aktuell zugelassenen mit niedrigeren Dosierungen vergleicht, von denen man weiß, dass sie effektiv sind.
Angesichts der hohen Effektivität von Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren gäbe es keinen  Anlass, Patienten mit einem erwarteten Überleben von vielen Jahren unnötigen kardialen Risiken auszusetzen, die vielleicht einer Überdosierung zuzuschreiben sind, so Ratain weiter.

Die FDA hätte eine solche Studie zum Zeitpunkt der Erstzulassung oder auch im Zusammenhang mit späteren Zulassungen für weitere Indikationen und Rezepturen anordnen können. Darüber hinaus ist die Behörde gemäß des FDA-Änderungsgesetzes von 2007 befugt, jederzeit zusätzliche Studien zu verlangen, um ein bekanntes ernsthaftes Risiko im Zusammenhang mit der Anwendung eines Medikaments zu bewerten.

Neue (reversible) BTK‑Inhibitoren hätten zwar möglicherweise eine bessere therapeutische Breite, es läge jedoch keine Evidenz dafür vor, dass diese völlig austauschbar zu Ibrutinib seien und es sei noch unbekannt, welche Off-target Ereignisse sich für diese neuen Substanzen zeigen werden, wenn sie in die breitere Anwendung gehen, warnt Ratain.

"Man könnte argumentieren, dass eine randomisierte Dosisfindungsstudie von Ibrutinib schon vor Jahren hätte in Auftrag gegeben werden müssen. [...] Es ist Zeit, dass die FDA eine solche Studie fordert und der Hersteller diese umgehend durchführt", schließt er.3

Referenzen:
1. Salem, J.-E. et al. Cardiovascular Toxicities Associated With Ibrutinib. Journal of the American College of Cardiology 74, 1667–1678 (2019).
2. Woyach, J. A. et al. Ibrutinib Regimens versus Chemoimmunotherapy in Older Patients with Untreated CLL. N. Engl. J. Med. 379, 2517–2528 (2018).
3. Ratain, M. J., Moslehi, J. J. & Lichter, A. S. Ibrutinib’s Cardiotoxicity—An Opportunity for Postmarketing Regulation. JAMA Oncol (2020) doi:10.1001/jamaoncol.2020.5742.
4. Shafaattalab, S. et al. Ibrutinib Displays Atrial-Specific Toxicity in Human Stem Cell-Derived Cardiomyocytes. Stem Cell Reports 12, 996–1006 (2019).
5. Chen, L. S. et al. A pilot study of lower doses of ibrutinib in patients with chronic lymphocytic leukemia. Blood 132, 2249–2259 (2018).
6. Parikh, S. A. et al. The impact of dose modification and temporary interruption of ibrutinib on outcomes of chronic lymphocytic leukemia patients in routine clinical practice. Cancer Medicine 9, 3390–3399 (2020).