Reklassifizierung: Verdient niedriggradiger Prostatakrebs das Label Krebs?

Eine Expertengruppe spricht sich dafür aus, niedriggradigen Prostatakrebs (Gleason ≤ 6) nicht mehr als Krebs zu bezeichnen. Denn klinisch verhält er sich nicht wie Krebs, sondern wie eine Krebsvorstufe.

Gleason 6-Histologie ist weit verbreitet

Mikroskopisch gut differenzierte Läsionen, die wahrscheinlich keine klinische Bedeutung haben

Die Prostatakarzinom-Inzidenz hat sich seit Einführung des PSA-Screenings verdoppelt, wobei 70% der Erstdiagnosen auf niedriggradige Tumoren wie Gleason 6 (Gradgruppe 1) entfallen. Ein solcher Befund ist weit verbreitet: bei mehr als 30% der über 50- und mehr als 60% der 80-Jährigen ist histologisch ein Prostatakarzinom nachweisbar.2 Solche niedriggradigen Veränderungen sind praktisch nicht in der Lage, in benachbarte lokale Strukturen einzudringen oder Metastasen zu bilden.3,4 Solche Veränderungen nicht mehr unter dem Terminus "Krebs" zu führen, würde das Kosten-Nutzen-Verhältnis des PSA-Screenings verbessern und verhindern, dass bei Millionen von Männern Krebserkrankungen diagnostiziert und behandelt werden, die unbehandelt nie einen negativen Einfluss auf deren Lebensqualität oder -dauer gehabt hätten, argumentiert ein Spezialisten-Team aktuell im 'Journal of Clinical Oncology'.5

Einfache Änderung der Terminologie für niedriggradige Läsionen würde Überdiagnosen und Übertherapie drastisch reduzieren

Neu ist die Diskussion nicht – wir denken zurück an den Beitrag Sollten wir über eine andere Bezeichnung für "Low-Risk-Tumoren" nachdenken?. "Wir sind der Meinung, dass es aktuell, zwingend, relevant und von größter Bedeutung ist, diesen Vorschlag wieder aufzugreifen", heißt es eingangs der aktuellen Publikation. "Bei GS6 handelt es sich weitgehend um eine natürliche, altersbedingte histologische Erscheinung, die artefaktisch als Krankheit definiert wird, von der nicht bekannt ist, dass sie Symptome oder Metastasen verursacht, die aber paradoxerweise zu einer invasiven Überwachung oder Behandlung führt."

Der Gleason-Score an sich birgt eine gewisse Unsicherheit. Zwar ist er eine Entscheidungshilfe, aber oft kaum verlässlich an den oft nur wenige Millimeter kleinen Karzinomherden zu bestimmen, mit der Folge, dass zwei unabhängige Pathologen dasselbe Karzinom minimal in 48% aller Fälle identisch bewerten. "Daraus resultieren für Betroffene nachteilige Überbewertungen der Gefährlichkeit ihres Karzinoms", gibt ein an der Studie nicht beteiligter Urologe, Dr. Herbert Bliemeister, zu bedenken.6

"Selbst wenn Gleason 6 biologisch inert ist – seine Bezeichnung ist es nicht"

Wenn eine Erkrankungsbezeichnung das Wort "Krebs" enthält, assoziieren die meisten Menschen damit verständlicherweise eine invasive und möglicherweise tödliche Erkrankung. Dies beeinflusst die psychische Gesundheit, verzerrt Entscheidungen und erhöht die Bereitschaft zu nebenwirkungsreichen Therapien – jeder Kliniker kann dies regelmäßig beobachten. Auch beispielsweise bei Brustkrebs ist dokumentiert, dass die Nomenklatur die Wahrscheinlichkeit beeinflusst, mit der eine aggressive Therapie gewählt wird.

Uro-Onkologe und Erstautor Dr. Scott Eggener und sein Team sind überzeugt, dass es die individuelle und öffentliche Gesundheit erheblich verbessern würde, für GS6 die Bezeichnung "Krebs" und die Anreize zur Überbehandlung zu eliminieren. "Die Daten sind eindeutig, der moralische Aspekt ist überzeugend, und die Zeit ist überfällig."

Referenzen:
1. Islami, F. et al. Annual Report to the Nation on the Status of Cancer, Part 1: National Cancer Statistics. JNCI: Journal of the National Cancer Institute 113, 1648–1669 (2021).
2. Cancer of the Prostate - Cancer Stat Facts. SEER.
3. Anderson, B. B. et al. Extraprostatic Extension Is Extremely Rare for Contemporary Gleason Score 6 Prostate Cancer. Eur Urol 72, 455–460 (2017).
4. Ross, H. M. et al. Do adenocarcinomas of the prostate with Gleason score (GS) ≤6 have the potential to metastasize to lymph nodes? Am J Surg Pathol 36, 1346–1352 (2012).
5. Eggener, S. E. et al. Low-Grade Prostate Cancer: Time to Stop Calling It Cancer. JCO JCO.22.00123 (2022).
6. Wie wird die Gefährlichkeit von PK objektiv gemessen? Prostatakrebs Beratung Dr. med. Herbert Bliemeister.

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