Gestörte mitochondriale Homöstase der Sehnervenzellen bei Glaukom

Forschungsdurchbruch in der Glaukomtherapie: Die Steigerung der mitochondrialen Biogenese durch einen neuroprotektiven pharmakologischen Wirkstoff könnte die antiglaukomatöse Therapie auf das nächste Level bringen.

Das Mysterium der mitochondrialen Dysfunktionen

Aktuell ist noch wenig darüber bekannt, wie die mitochondriale Homöostase verbessert werden kann, um die Neuroprotektion der Sehnervenzellen zu fördern. Dabei sind mitochondriale Dysfunktionen bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) weit verbreitet. Eine Forschungsgruppe der Indiana University School of Medicine hat an Sehnerven-Stammzell-differenzierten retinalen Ganglienzellen (hRGCs) mitochondriale Dysfunktionen genaustens untersucht. In ihrer erst kürzlich publizierten Studie kamen die Forscher der Lüftung der Geheimnisse um die mitochondrialen Dysfunktionen einen entscheidenden Schritt näher.1

Mutierte hRGCs besitzen weniger Mitochondrien

In ihrem Forschungsprojekt haben sie Mechanismen zur Verbesserung der mitochondrialen Qualitätskontrolle (MQC) identifizieren können. Sie konnten zeigen, dass die hRGCs in der Lage waren, die mitochondriale Homöostase akuter Schädigung effizient aufrechtzuerhalten. Dies war durch einen schnellen Abbau und die anschließende Biogenese von Mitochondrien möglich. Mit Hilfe einer glaukomatösen Optineurin-Mutante (E50K) Stammzelllinie konnte die Forschungsgruppe ein wichtiges Element des glaukomatösen Pathomechanismus ans Licht bringen: Die mutierten, dem Glaukom nachempfundenen hRGCs besitzen im Grundzustand eine geringere Mitochondrienmasse. Aufgrund der hieraus resultierenden übermäßigen ATP-Produktionslast kommt zu einer Schwellung der vorhandenen Mitochondrien.1

Pharmakologische Hemmung der Tank-bindenden Kinase 1 bietet neue Chancen für Glaukomtherapie

Die Forschungsgruppe konnte in weiteren Experimenten die Energiehomöostase innerhalb der überlasteten mutierten hRGCs wiederherstellen. Dies war möglich durch die pharmakologische Hemmung der Tank-bindenden Kinase 1 (TBK1). Durch die Hemmung dieser Kinase konnte die mitochondriale Biogenese aktiviert werden. Das Resultat war eine Abnahme der mitochondrialen Schwellung und damit einhergehend eine Neuroprotektion gegen akute mitochondriale Schäden bei glaukomatösen E50K hRGCs. Dieses Ergebnis war insofern bahnbrechend, da es einen völlig neuen Neuroprotektionsmechanismus offenbart.1

Akute Schädigung der hRGCs durch Carbonylcyanid m-Chlorphenylhydrazon

In einem nächsten Schritt rief die Forschungsgruppe die mitochondriale Schädigung innerhalb der hRGCs durch Carbonylcyanid m-Chlorphenylhydrazon (CCCP) hervor. Aus der Literatur war bekannt, dass bereits 10 μM des CCCP die mitochondriale Morphologie kultivierter Zellen innerhalb weniger Sekunden wirksam verändern können. Durch die Auslösung der akuten mitochondrialen CCCP-bedingten Schädigung konnte die Forschungsgruppe untersuchen, ob und auf welche Weise hRGCs die mitochondriale Homöostase unter Stress wiederherstellen können. Mittels Immunfluoreszenz konnten die Forscher die mitochondriale Gesamtmasse der Zellen vor und nach Schädigung mittels optischer Kriterien bestimmen. Hierzu färbten sie das für Mitochondrien spezifische Protein Tom20 an (siehe Abbildung 1). Dies ermöglichte eine direkte Messung der mitochondrialen DNA-Kopienzahl. Die Forschungsgruppe stellte fest, dass die mitochondriale Gesamtmasse im Verlauf der CCCP-Behandlung sowohl bei den Wildtyp (WT)- als auch bei den E50K-hRGCs um den Dimethylsulfoxid (DMSO)-Kontrollzustand herum schwankte. Sie kamen zu dem Schluss, dass es innerhalb der hRGCs strenge MQC-Mechanismen geben muss, die die Gewährleistung einer stabilen mitochondrialen Gesamtmasse selbst bei akuter Schädigung ermöglichen.1

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Abbildung 1: Dargestellt sind konfokale Immunfluoreszenzbilder von H7-hRGCs gegen mitochondriales Tom20 nach den unterschiedlichen CCCP-Behandlungszeitpunkten: DMSO (Kontrollzustand), nach 1 h, 6 h und nach 24 h. In den oberen Bildabschnitten sind die Wildtyp-hRGCs und in den unteren Bildabschnitten die E50K hRGCs dargestellt.1

Messung der Gesamtmasse der Mitochondrien: Neue versus abgebaute Mitochondrien

Die Gesamtmasse der Mitochondrien, die zuvor mittels Immunfluoreszenz bestimmt werden konnte, gab keine Auskunft über den Anteil neu synthetisierter Mitochondrien. Zur Unterscheidung der neu synthetisierten Mitochondrienpopulation von bereits abgebauten Mitochondrien verwendete die Forschungsgruppe den mitochondrienspezifischen Farbstoff für lebende Zellen: MitoTracker Deep Red (MTDR). Anschließend führten sie durchflusszytometrische Messungen durch. Auf diese Weise konnten die Forscher den mitochondrialen Abbau und die Biogenese direkt messen und bei der Bestimmung der Mitochondrienmasse voneinander unterscheiden.1 

Zunächst kontrovers erscheinende Ergebnisse machen schlussendlich Sinn

Die Forschungsgruppe konnte die beschädigten und die gesunden Mitochondrien durch die Verwendung des Farbstoffs JC1 sichtbar machen. Gesunde Mitochondrien erscheinen rot und beschädigte grün. Zunächst konnten die Forscher sowohl bei den WT- als auch bei den E50K-hRGCs nach einer CCCP-Schädigung eine Zunahme der roten JC1-Intensität und eine Abnahme der grünen JC1-Mitochondrien. Eigentlich hatten sie eine Zunahme der grünen (geschädigten) JC1-Mitochondrien mit gleichzeitiger Abnahme der roten (gesunden) Mitochondrien erwartet (siehe Abbildung 2). Ein Grund hierfür könnte eine effiziente Beseitigung der geschädigten Mitochondrien und Kompensation durch Biogenese durch die hRGCs sein.1

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Abbildung 2: Dargestellt sind die mittels JC1 sichtbar gemachten gesunden und geschädigten Mitochondrien in WT und E50K hRGCs nach CCCP-Schädigung.1

Im Grundzustand zeigten die Wildtyp hRGCs und die mutierten E50K hRGCs ein ähnliches Verhältnis von gesunden zu geschädigten Mitochondrien (siehe Abbildung 2). Auffällig war jedoch, dass die dem Glaukom nachempfundenen E50K hRGCs nach der Erholungsphase (CCCP-Auswaschung nach CCCP-Einwirkung) über eine geringere Masse an gesunden Mitochondrien – verglichen mit der Mitochondrienmasse im Kontrollzustand- verfügten (siehe Abbildung 3).1

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Abbildung 3: Dargestellt sind die mittels JC1 sichtbar gemachten gesunden und geschädigten Mitochondrien in WT und E50K hRGCs im Kontrollzustand bzw. nach Auswaschung des CCCP (Erholungsexperiment).1

Dysfunktionale mitochondriale Homöostase nach akuter Schädigung in glaukomatösen E50K hRGCs 

Der entscheidende Unterschied zwischen Wildtyp und E50K hRGCs war folgender: Nach der Erholungsphase nach CCCP-Schädigung und -Auswaschung wiesen die WT hRGCs eine ähnliche Mitochondrienverteilung wie im Kontrollzustand (DMSO) auf. Bei den E50K-hRGCs hingegen lag eine geringere Masse an gesunden Mitochondrien im Vergleich zum Kontrollzustand vor. Dies deutet darauf hin, dass glaukomatöse E50K hRGCs Schwierigkeiten haben, die mitochondriale Homöostase nach akuter Schädigung wiederherzustellen.1

Referenzen:
  1. Surma M. et al. (2023). Enhanced mitochondrial biogenesis promotes neuroprotection in human pluripotent stem cell derived retinal ganglion cells. Commun Biol. 2023 Feb 24;6(1):218.
  2. Zhang, N., Wang, J., Li, Y. et al. Prevalence of primary open angle glaucoma in the last 20 years: a meta-analysis and systematic review. Sci Rep 11, 13762 (2021). 
  3. Kremmer S. et al. (2000). Das kardiovaskuläre Risikoprofil bei der Progression der Glaukomerkrankung. Dtsch Arztebl 2000; 97(34-35): A-2241 / B-1909 / C-1793.