Immunsystem

Liebe Kollegen,

sensibilisert durch Impf- und Hygienekampagnen dieses Jahres und zunehmende Häufigkeit von iatrogenen Problemkeimen ergeben sich grundlegende Fragen zur derzeit praktizierten Infektionsprophylaxe und -therapie.

Wer auf Reisen oder im TV sehr lebhafte Kinder im Hafenbecken von Bankok hat baden sehen, der muß sich m.E. grundlegende Fragen zu Hygiene und Immunität stellen.

Zwar sind wir als Mediziner sowohl in Biologie als auch in Chemie ausgebildet, jedoch suchen wir im klinischen Alltag offenbar öfter in der Pharmazie als in der Ökologie unser Heil. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass die chemische Industrie uns Ärzten schnelle und einfache Lösungen anbietet, die allerdings nicht zwangsläufig die besten seien müssen.

Leider stehen den meinungsbildenden Ressourcen der nicht ganz selbstlosen Pharma-industrie keine vergleichbaren Strukturen im Bereich der Biologie und Physiologie gegenüber.

Soweit ich das verstanden habe, ist der größte Wachstumshemmer für wenige infektiöse Keime die Vielfalt einer intakten saprophytäre Keimflora. Dennoch versuchen Hygieniker ständig eine "tabula rasa" zu schaffen, auf welcher der pathogene Keime keine natürlichen Fressfeinde findet, womit die Anwendung noch extremerer Desinfektion begründet wird.

Das Immunsystem des Menschen ist aber Teil eines lebenden Organismus, der sich auf vielfältige Art an eine Unzahl von Variablen anpassen kann - wenn er denn gelassen wird. Das Wissen um diesen trainierbaren individuellen Schutz war schon immer ein Vorteil der Ärzte, obwohl es jeder Mensch tagtäglich erfährt, der mit hunderten von Türgriffen und Klimaanlagen in Kontakt kommt.

Ich bitte mich jetzt nicht falsch zu verstehen. Die Unterschiede in Virulenz der Keime und Disposition der Menschen ist mir geläufig und ich bin kein Öko-Freak und Impfverweigerer.

Infektionsschutz und -therapie sind wesentlicher Bestandteil unserer Medizin.

Dennoch bin ich der Meinung, dass nicht situationsgerecht ausufernde Hygienemaß-nahmen nicht der Volksgesundheit dienen, sondern der Immunitätslage von Individuen und Gruppen eher abträglich sind. Das Abtöten von Saprophyten ist eben keine Desinfektion, sondern ein Vorgang, der unser körpereigenes Abwehrsystem schwächt, pathogenen Keimen einen Lebensraum schafft und durch Angst vor Infektionen auf der psycho-neuro-immunologischen Ebene krank machend wirkt. Sind nicht gerade die Bereiche mit höchster Hygienestufe bei immungeschwächten Patienten die Quelle von ORSA & Co?

Ebenso, wie die Antibiose, ist auch die Desinfektion ein scharfes Schwert im Kampf gegen Infektionen, die weltweit immer noch die häufigste Todesart darstellen. Das zunehmende Auftreten antibiotikaresistenter Keime sollte uns aber hellhörig machen gegenüber den aktuellen Hygieneempfehlungen, die man allerorten auch ungefragt bekommt. Cui bono?

Macht in einer Hausarztpraxis Sinn, was auf einer Intensivstation Standard ist? Sollten Wohneinrichtungen desinfiziert werden wie ein OP? Werden ORSA-Keimträger zukünftig wie Lepröse in Kolonien leben müssen, bis Ihr Immunsystem sich von der ärztlichen Therapie erholt hat und der "resistente" Keim von einer nicht krank machenden Keimflora überwuchert wird?

Wer viel fragt, der bekommt viel Antwort - hoffe ich