Fachbeitrag Onkologie: Das Priming der Krebszellen – der Versuch die Effizienz der Chemotherapie zu prophezeien

Das Auslösen der Apoptose, der sog. programmierte Zelltod, ist entscheidend für die Effizienz der Chemotherapie. Seit ihrer Entdeckung 1842 und ihrer ersten Beschreibung 1885 hat ihre molekulare Charakterisierung immer mehr an Bedeutung gewonnen [Cotter, 2009]. Heute ist die Apoptose als komplexes Phänomen anerkannt, ein Prozess der durch Genaktivierung und Durchlaufen verschiedener Signalkaskaden auf nekrotische Vorgänge Entzündungsreaktionen erfolgen lässt.

Man ist sich einig, dass das Zentrum ihrer Entstehung das Mitochondrium ist. Genauer gesagt wird sie ausgelöst, indem Cytochrom c aus dem Zytoplasma freigesetzt wird. Im Zytoplasma werden anschließend Caspasen aktiviert, die für den aktiven Abbau von Zellbestandteilen notwendig sind. Da das Cytochrom c im Intermembranraum des Mitochondriums angesiedelt ist, besteht die Herausforderung beim Auslösen der Apoptose darin, die Bildung von Poren in der Außenmembran zu induzieren, um die Freisetzung des Cytochrom c zu ermöglichen. Somit können apoptotische Anzeichen als Anzeichen der Porenbildung in der Außenmembran des Mitochondriums verstanden werden. Die Rolle der Chemotherapie ist demnach die Förderung der Induktion ausreichend apoptotischer Signale, um letztendlich den Tod der Zellen zu fördern [Chabner and Roberts, 2005].

Interessanterweise hängt die Kontrolle über die Bildung der Poren in der Außenmembran des Mitochondriums von einer einzigen Proteinfamilie ab: der Bcl-2-Familie. Evolutionstechnisch ist diese Familie gut erforscht und wurde entsprechend ihrem Prototyp, dem Bcl-2-Protein (B cell lymphoma 2), benannt. Bcl-2 ist das erste molekular charakterisierte Protein, welches an der Steuerung der Apoptose beteiligt ist [Cotter, 2009].

Angesichts der ursprünglichen Annahme, Bcl-2 sei ein Induktor für Zellprofileration, blieb sein Status aufgrund seiner Unfähigkeit die Kultivierung der Zellen anzuregen rätselhaft. Anschließend zeigten Forschungsergebnisse, dass Bcl-2 kein Induktor der Zellproliferation, sondern ein Inhibitor des Zelltods ist. Dem zufolge wurde nachgewiesen, dass eine Krebszelle nicht nur eine Zelle ist die sich übermäßig teilt, sondern zudem auch nicht sterben kann. Diese Entdeckung hat große Begeisterung für die Möglichkeiten des Proteins ausgelöst und die Forschung dazu hat sich intensiviert und so die Identifizierung durch Sequenzhomologie von mehreren mit dem Bcl-2 vergleichbaren Proteinen ermöglicht mit der Erkenntnis: manche fördern die Apoptose und andere hemmen sie.

Die Proteine der Bcl-2 - Familie sind auf Basis der zugehörigen Domänen in verschiedene BH-Domänen (Bcl-2 homology) unterteilt. Es existieren vier Typen von BH-Domänen: die Domänen BH1, BH2, BH3 und BH4. Die Proteine der Bcl-2-Familie haben keine bekannte enzymatische Aktivität und sind deswegen relativ schwer zu untersuchen: ihre einzige Funktion besteht aus ihrer Fähigkeit, miteinander zu interagieren.
Diese Interaktionen werden meist durch die BH3-Domäne ermöglicht. Nicht alle Proteine der Bcl-2 Familie weisen die Domänen BH1, BH2 oder BH4 vor, aber alle enthalten die BH3-Domäne. Daher kann eine strukturelle Klassifizierung vorgenommen werden. Sie unterscheidet die Proteine, die die BH3-Domäne und mindestens eine andere BH-Domäne enthalten (multi-BH domain family members) von denen, die nur aus der BH3-Domäne bestehen (BH3-only family members) [Juin et Al..2013].

Zu dieser strukturellen Klassifizierung kommt die funktionelle Klassifizierung. Dem zufolge können die antiapoptotischen Proteine, die die Apoptose hemmen, von den proapoptotischen, die die Apoptose fördern, unterschieden werden. Die Proteine mit proapoptotischer Funktion können in drei Kategorien unterteilt werden: die Effektoren, die Aktivatoren und die Sensibilisatoren. Die Effektoren sind für die Bildung von Poren im Mitochondirum verantwortlich, was eine bestimmte von den Aktivatoren induzierte Konformation braucht. Die Sensibilisatoren hingegen hemmen die antiapoptotischen Proteine. Diese Klassifikation ist zwar sinnvoll, aber in Wirklichkeit viel komplexer: jedes proapoptotische Protein,könnte unabhängig von seiner Kategorie mit einem antiapoptotischen Protein interagieren, um seine Tätigkeit anzupassen. Noch komplexer wird es in Anbetracht dessen, dass jedes Protein besondere Affinitäten zu anderen Proteinen hat. Daraus ergeben sich zwei wichtige Aspekte bezüglich der Analyse der Proteine der Bcl-2-Familie: zum einen die Anregung der Porenbildung und zum anderen die Interaktionen, die mit der Anregung der Porenbildung verknüpft sind, d. h. die Erforschung des Interaktionsnetzes mit allen implizierten Modellierungsschwierigkeiten (wie wird die Bildung von Poren induziert? Wie kann man die Interaktionsvernetzung mit jeder darin enthaltenen Modellierungsmöglichkeit untersuchen?).

Das Team von Dr. Anthony Letai gehört zu den Forscherteams, die sich für die Proteine der Bcl-2 Familie interessieren. Dieses Team hat den Grundsatz vom priming for death (Zündung für den Tod) der Zellen erarbeitet [Sarosiek et al., 2013]. Um den Priming-Grundsatz zu verstehen muss man wissen, dass die Interaktionsvernetzung der Proteine der Bcl-2 Familie sich in einem dynamischen Gleichgewicht befindet. Aus dieser Sicht kann ein apoptotisches Zeichen als ein Ereignis verstanden werden, das dieses Gleichgewicht stören kann. So gesehen, ist die Vernetzung von den antiapoptischen Proteinen so etwas wie ein Puffersystem, das es der Zelle ermöglicht, leichte Abwandlungen des Gleichgewichtes des gesamten Netzes zu verkraften. Anders gesagt, je mehr eine Zelle freie antiapoptotische Proteine zur Verfügung hat - nicht proapoptotisch gebunden - desto weniger ist sie vorbestimmt, primed zu werden und wird nur mit geringer Wahrscheinlichkeit einen apoptotischen Weg einschlagen. Im Gegensatz dazu bedeutet eine Überlastung mit apoptotischen Proteinen eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Zelle primed wird und auf apoptotische Zeichen antworten wird. Die Versuchsbeweise dieses Konzeptes stammen von Forschungen, die vor 15 Jahren begonnen wurden. Sie basieren auf der Anwendung von Peptiden, die für die BH3-Domänen verschiedene Mitglieder der Bl-2 Famile codieren. Diese Peptide besitzen die Fähigkeit, die Gesamtheit der apoptotischen Proteine zu hemmen. Diese Besonderheit emöglicht es auszuwerten, ob eine Zellbevölkerung primed ist oder nicht. Diese Peptide führt man in die Zellen zu ein und misst darauf die Befreiung von Cytochrom c und kann so bestimmen, wieviel freie antiapoptotische Proteine zur Verfügung stehen. Wenn genügend freie antiapoptotische Proteine zu einer Zelle gehören, dann werden sie in der Lage sein, die Peptide BH3 und die Aktivatoren zu tamponnieren und im Endeffekt die Befreiung von Cytochrom c zu verhindern (siehe Illustration). Wenn die Zelle nicht genug freie antiapoptische Proteine besitzt, wird dies nicht geschehen - dann genügt es, die Befreiung vom Cytochrom c zu bemessen, um zu wissen, ob die Zellen genug freie Proteine zur Verfügung hat.

Dr. Letais Team befindet sich im Dana Farber Cancer Institute in Boston. Gemeint ist Sidney Faber, Begründer dieses Institutes und Vater der modernen Chemotherapie. Die Forschungen von Dr. Letai verweisen auf ihn und als studierter Mediziner sind seine Forschungen therapeutisch verankert und befassen sich zusätzlich mit grundlegenden Überlegegungen. Dank den Forschungen von Dr. Letai wissen wir, dass das priming von Krebszellen direkt an ihre Empfindlichkeit für die Chemotherapie gebunden ist. Es wurde oben schon festgestellt, dass die Regulierung der Proteine der Bcl-2-Familie komplex ist. Der Vorteil der Vorgehensweise des Teams von Dr. Letai ist, dass sie ergebnisorientiert ist: die momentanen Möglichkeiten der Medizin ermöglicht es, den Zelltod zu induzieren und bewirkt dementsprechend eine Reaktion des Körpers auf die Chemotherapie. Angesichts dessen könnte man einen Test entwickeln, der in den 24 Stunden nach der Chemotherapie stattfindet, Geschwulstzellen können gesammelt und untersucht werden um zu erfahren, ob sie primed sind oder nicht. Dieser Test könnte helfen, festzustellen, wie die Chemotherapie und auch andere gezielte Therapien sich auf die Zellen auswirken. Der Wert des Tests ist noch höher, wenn man sich bewusst macht dass die meisten frisch entnommenen Krebszellen beim Versuch der Kultivierung spontan sterben - was die Auswertung der Effektivität der Chemotherapie seit jeher erschwert.

Das priming-Konzept ist ziemlich neu und seit seiner Einführung forschten Dr. Leita und sein Team unabhängig von krebszellen auch in anderen Richtungen. Es könnte ihm vorgeworfen werden, dass dieses Konzept andere Arten von Zelltod (Autophagie, Nekrose, Ferroptosis...) vernachlässigt und ziemlich “apoptotisch zentriert” ist. Dennoch bleibt der Krebs ein riesiger Forschungsraum. Die histologischen Proben, die im Labor ankommen enthalten oft tausende von Zellen und nicht jede ist eine Tumorzelle. Das zukunftsweisende Eigenschaft des “Leta”-Tests besteht darin, dass er mit wenigen Zellen auskommen kann. So haben Dr. Letais Forschungen, einerseits den Vorteil, eine klare therapeutische Orientierung zu haben und andererseits bringen sie grundsätzliche Überlegungen über die Chemotherapie ins Rollen.