Antiretrovirale Therapie: Naht der Paradigmenwechsel?

Zahlreiche Patientinnen und Patienten mit HIV-Infektion erhalten Dreifachtherapien. Moderne Regimes mit zwei Wirkstoffen seien dieser Strategie aber nicht unterlegen, hieß es bei der IAS 2021.

Zwei-Wirkstoff-Regimes und Drei-Wirkstoff-Regimes im Vergleich

Zahlreiche Patient:innen mit HIV-Infektion erhalten Dreifachtherapien. Moderne Regimes mit zwei Wirkstoffen seien dieser Strategie aber nicht unterlegen, hieß es bei der IAS 2021. 

Ein kurzer Rückblick: Ab 1986 erhielten Patient:innen mit HIV-Infektion Azidothymidin. Die hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) ab 1996 brachte schließlich den Durchbruch, um HIV zu kontrollieren. Dazu wurden die Proteasehemmer Indinavir sowie Ritonavir zugelassen. Und mit Nevirapin stand der erste Nicht-nukleosidale Reverse-Transkriptase-Hemmer zur Verfügung. Ende 2000 folgte schließlich die Zulassung für Zidovudin, Lamivudin und Abacavir als Dreifachkombination. Mittlerweile gibt es etliche andere Pharmaka. Prof. Dr. Jennifer Hoy von der Monash University ging beim IAS 2021 der Frage nach, welche Bedeutung Zweifach- oder Dreifach-Kombinationstherapien haben – und wohin die Reise gehen wird. 

Fachgesellschaften empfehlen meist Drei-Wirkstoff-Regimes

"Im Jahr 2021 verordnen Ärzte als initiale antiretrovirale Therapie meist zwei nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren und eine dritte Substanz, etwa einen Integrase-Inhibitor", sagte Hoy. Diese Strategie finde man in Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO, der European AIDS Clinical Society, des US Department of Health and Human Services (DHHS) sowie der International Antiviral Society. "Es gibt etliche Fixkombinationen in Tablettenform, was Patienten die Einnahme erleichtert", betont die Referentin. "Obwohl diese Therapien wirksam sind und gut toleriert werden, diskutieren Experten über Regimes mit zwei Wirkstoffen", so Hoy. 

Bringen Zwei-Wirkstoff-Regimes Vorteile? 

Die Idee dahinter: Patient:innen mit HIV-Infektion nehmen Wirkstoffe ihr Leben lang ein. Weniger Pharmaka könnten das langfristige Risiko unerwünschter toxischer Effekte verringern. Hoy nennt als Möglichkeiten für die initiale Behandlung Dolutegravir plus Lamivudin: eine Kombination, die sich auch für Erhaltungstherapien eignet. Zur langfristigen Behandlung erwähnt sie außerdem geboosterte Proteasehemmer plus Lamivudin, Dolutegravir plus Rilpivirin oder langwirksames Cabotegravir plus Rilpivirin. 

Zwei-Wirkstoff-Regimes eignen sich wegen der Pharmakokinetik, aber teilweise auch wegen fehlender Daten, nicht für alle HIV-Infizierten. Erkrankte mit chronischer Hepatitis B, mit Schwangerschaft, mit bekannter Resistenz gegen einen der Wirkstoffe, mit fehlenden Informationen über den HIV-Genotyp, mit einer Viruslast von mehr als 500.000 Kopien pro Milliliter, mit einer CD4-Zellzahl unter 200 pro Mikroliter oder mit Therapiestart direkt nach Diagnosestellung sollten ausgeschlossen werden. 

Studien zeigen Nicht-Unterlegenheit des Zwei-Wirkstoff-Regimes

Doch wie ist die Datenlage bei geeigneten Patient:innen? Hoy zitiert beispielsweise die GEMINI-1-Studie. Hier wurden insgesamt 719 PatientInnen einer Behandlung mit Dolutegravir/Lamivudin (N = 359) oder mit Dolutegravir/Emtricitabin/Tenofovirdisoproxilfumarat zugewiesen. In den beiden Therapiearmen gab es keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Suppression von HI-Viren, hinsichtlich der CD4-Zellzahl beziehungsweise der minimalen Restvirämie. Auch die Adhärenz von Patient:innen war vergleichbar. "Bislang fehlen uns jedoch Vergleiche zwischen beiden Regimes hinsichtlich der Nebenwirkungen", sagt die Referentin. 

Weitere Informationen kommen aus der TANGO-Studie (Dolutegravir/Lamivudin versus Dreifachtherapie) und aus der SWORD-Studie (Dolutegravir/ Rilpivirin versus Dreifachtherapie). Es gab keine Hinweise auf Nachteile des Zwei-Wirkstoff-Regimes hinsichtlich der minimalen Restvirämie, hinsichtlich einer stärkeren ZNS-Beteiligung bei der Infektion oder hinsichtlich der Viruslast im Genitalbereich. 

Gesundheitsökonomische Aspekte

Große Unterschiede sieht die Referentin jedoch hinsichtlich der Kosten. Generisches Tenofovirdisoproxilfumarat/Lamivudin/Dolutegravir schlägt auf dem Weltmarkt mit 59 US-Dollar (50 Euro) pro Person und Jahr zu Buche. Das "UNAIDS 95/95/95"-Ziel sieht vor, bis 2030 sollen mindestens 95 Prozent der Menschen mit HIV von ihrer Infektion wissen, mindestens 95 Prozent davon entsprechende Medikamente erhalten und mindestens 95 Prozent der Behandelten erfolgreich therapiert werden. Dafür brauche man zwei Milliarden US-Dollar (1,70 Milliarden Euro) pro Jahr, was sich kaum aufbringen lasse, kommentiert Hoy. 

In den USA kostet das Regime Dolutegravir/Abacavir/Lamivudin pro Kopf und Jahr 38.628 US-Dollar (32.737 Euro). Ersetzt man theoretisch jede zweite Behandlung durch Dolutegravir/Lamivudin, könnte man in fünf Jahren 800 Millionen US-Dollar (678 Millionen Euro) einsparen. 

Fazit: Zwei-Wirkstoff-Regimes in vielen Fällen geeignet

Zusammenfassend sieht die Expertin Vorteile im Zwei-Wirkstoff-Regime. Diese Strategie sei, wie sie sagt, ähnlich wirksam und ähnlich gut verträglich wie das Drei-Wirkstoff-Regime, und das bei niedrigeren Kosten. Ein dritter Wirkstoff sein in vielen – aber nicht allen – Fällen unnötig. 

Referenz: International AIDS Society Conferences (IAS) 2021, Session „Antiretroviral therapy: Time to change the paradigm?“, 20. Juli 2021.