Einschnitte und Chancen bei HIV durch COVID-19?

Vorbereitend auf die 11. Konferenz der IAS richtete das Tagesspiegel Fachforum Gesundheit unter dem Titel “Post-Corona: Paradigmenwechsel in der HIV-Politik?” den Blick auf die aktuelle HIV-Politik, Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie, um AIDS bis 2030 zu beenden und die Versorgung von Menschen mit HIV zu verbessern, und darauf, welche Chancen in der Prävention noch zu wenig genutzt werden.

“HIV-frei” bis 2030: UNAIDS-Ziel noch zu erreichen?

Im Jahr 2021 liegt die erste wissenschaftliche Erwähnung des Krankheitsbildes AIDS 40 Jahre zurück. Vorbereitend auf die 11. Konferenz der International AIDS Society in Berlin richtete das Tagesspiegel Fachforum Gesundheit am 13.07. unter dem Titel “Post-Corona: Paradigmenwechsel in der HIV-Politik?” den Blick auf die aktuelle HIV-Politik, Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie, um AIDS bis 2030 zu beenden und die Versorgung von Menschen mit HIV zu verbessern, und darauf, welche Chancen in der Prävention noch zu wenig genutzt werden.

Die Veranstaltung einleitend betont Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff: Auch nach 40 Jahren dürfe man HIV und AIDS nicht aus den Augen verlieren. Vieles sei in den vergangenen vier Dekaden bereits erreicht worden, ein durchschlagender Erfolg könne aber nur gemeinsam erzielt werden. Auch Moderator Tilmann Warnecke richtet zu Beginn des Fachforums den Blick auf Erfolge und bislang unerfüllte Ziele im Kampf gegen HIV / AIDS. Immerhin zwei von drei Punkte des UNAIDS-Ziels 90-90-90 seien bis 2020 in Deutschland erreicht beziehungsweise sogar überschritten worden: Von den diagnostizierten HIV-Infizierten seien 93 Prozent in Behandlung, bei 95 Prozent der Behandelten sei die antiretrovirale  Therapie erfolgreich. Allerdings habe man mit 88 Prozent das Wunschziel hinsichtlich der HIV-Diagnostik noch nicht erreicht.

Ob die UNAIDS-Ziele für 2030, die AIDS-Pandemie endgültig zu beenden, noch zu erreichen sind, darüber sprach der Direktor des Institutes für Virologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn, Prof. Dr. Hendrik Streeck. Unter dem Titel “Konkurrenz unter Pandemien: Sind die UNAIDS-Ziele noch zu halten?” stellte der Virologe Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Pandemien COVID-19 und HIV/AIDS gegenüber. Gehe man beim HI-Virus davon aus, der Ursprung liege in einer Übertragung vom Schimpansen zum Menschen, so vermute man den COVID-19-Ursprung bei Fledermäusen. Ebenso hätten beide Pandemien gemein, dass es zu ihnen ebenfalls Theorien eines Laborursprungs gebe. Eine besonders traurige Gemeinsamkeit, so Streeck, läge zudem in den Punkten Stigmatisierung und Diskriminierung. So seien im Hinblick auf COVID-19 Begriffe wie “Wuhan-Virus” oder aus “Kung-Flu”, wie sie auch wiederholt vom vorherigen US-Präsidenten genutzt wurden, gefallen und Menschen asiatischer Abstammung teilweise angegriffen worden. Auch bei HIV hallen Vorurteile und Diskriminierung bis heute nach. So verweist Streeck etwa auf einen alten Spiegel-Artikel, indem die Rede von der “Homosexuellen-Seuche AIDS” ist.

Aus der Pandemie für die Pandemie lernen

Es gebe aber zwischen COVID-19 und HIV auch gravierende Unterschiede: So stehen laut Streeck aktuell 185 Millionen Infizierte, 170 Millionen Genesene und etwa vier Millionen Tote im Zusammenhang mit dem Coronavirus 77 Millionen Infizierten, null Genesenen und 35 Millionen Toten weltweit gegenüber. Durch die COVID-19-Pandemie, damit einhergehende Lockdown-Maßnahmen und eingeschränkten Zugang zum Gesundheitswesen sieht der Virologe vor allem eine Gefährdung in der Gruppe der “Sick or Dying”. So zeigen Daten aus mehreren afrikanischen Ländern etwa, dass im Jahr 2020 deutliche Rückgänge im Hinblick auf HIV-Tests, Therapiemöglichkeiten und beim Service für HIV-positive Kinder und Jugendliche zu verzeichnen waren. Ebenso, betont Streeck, zeigen aber auch Daten aus den USA, etwa aus Boston, dass von Januar bis April 2020 deutliche Rückgänge beim Zugang zu HIV-Tests und PrEP zu verzeichnen waren. Somit, fasst der Virologe zusammen, haben Menschen, die bereits marginalisiert sind, ein deutliches Risiko, noch weiter marginalisiert zu werden. Die COVID-19-Pandemie habe weltweit zu einem deutlichen Einschnitt in der Versorgung von Personen, die mit HIV leben, geführt. Globale Ungleichheiten wurden dabei noch weiter verstärkt. 

Dennoch können laut Prof. Streeck auch verschiedene Lehren aus der aktuellen Pandemie für den Kampf gegen AIDS gewonnen werden. COVID-19 zeigt auf: Ist der politische Wille zum Handeln da, gibt es auch immer Möglichkeiten. Binnen kürzester Zeit wurden 8 Impfstoffe gegen das Coronavirus zugelassen, 30 Impfstoffe hätten es in Phase III geschafft. In der Forschung zu HIV hätten es innerhalb von 40 Jahren lediglich 8 Impfstoffe in Phase III geschafft. Auch, wenn bei der Forschung zu HIV eine andere Komplexität vorläge, wären in diesem Bereich deutlich weniger klinische Studien durchgeführt worden. Prof. Streeck hofft nun, dass Handlungswille und Momentum, wie sie aktuell vorherrschen, auch genutzt werden, um die HIV-Pandemie bis 2030 zu beenden. mRNA könnte auf der Suche nach einem Impfstoff etwa einen möglichen Weg darstellen. Trotzdem hat der Virologe seine Zweifel, ob man durch die aktuelle Lage zwangsläufig besser auf potentielle Pandemien  vorbereitet sei. Allem Forschungsdrang zum Trotz habe man es nicht geschafft, global zu denken. Für durchbrechende Erfolge sei es aber entscheidend, dass Impfstoffe und Behandlungsoptionen weltweit zur Verfügung gestellt werden.

Quelle: Tagesspiegel Fachforum Gesundheit: “Post-Corona: Paradigmenwechsel in der HIV-Politik?”; 13.07.2021