Neues zur digitalen Mobilitätserfassung

Ist die digitale Mobilitätserfassung (schon) relevant für Klinikerinnen und Kliniker? Wie Sensoren und digitale Medizin in der Neurogeriatrie eingesetzt werden, das umriss Prof. Dr. Walter Mätzler.

Digitale Medizin in der Neurogeriatrie: Die "Mobilise-d"-Studie

Ist die digitale Mobilitätserfassung (schon) relevant für Klinikerinnen und Kliniker? Wie Sensoren und digitale Medizin in der Neurogeriatrie eingesetzt werden, das umriss Prof. Dr.  Walter Mätzler, Leiter der Neurogeriatrie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel.

Digitale Medizin ermöglicht aus seiner Sicht einen Paradigmenwechsel in der Medizin, vor allem dadurch, dass die Daten bei den PatientInnen bleiben (digitale Gesundheitsakte). Für diese heißt das: Selbstverantwortlich(er) agieren, für ÄrztInnen heißt das: PatientInnen selbstverantwortlich(er) agieren lassen. Digitale Mobilitätserfassung erlaube verstärkt Einblicke in den Lebensalltag von PatientInnen. Denn das, was Ärztinnen und Arzt in der Praxis sehen, sei ja nur ein Teil der PatientInnen.

Mobilise-d: Wie bewegen sich PatientInnen im Alltag?

Mit der Studie "Mobilise-d" wollen Mätzler und KollegInnen herausfinden, wie sich Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg in ihrem Alltag bewegen. Die Studie soll den Zusammenhang von Gehen und Gesundheit zeigen. Mittels Sensoren soll so bei PatientInnen mit etwa Parkinson oder Multipler Sklerose untersucht werden, wie die Krankheit mit der Art ihres Gehens zusammenhängt. Denn Mobilität und die Geh-Qualität sind ein wichtiges Maß für Gesundheit und Wohlbefinden. Bisher fehlt aber eine Methode, das zu messen.

Dem Kieler Forschungsteam geht es vor allem darum, dort Daten zu sammeln, wo sich die PatientInnen auf natürliche Weise bewegen. Mätzler berichtet, dass Patientinnen oder Patienten, die gebeten werden, einmal durch den Praxisraum zu laufen, das angestrengter tun als in ihrem Alltag. Das erinnert an den "Weißkittel"-Bluthochdruck: Bei diesen PatientInnen steigt der Blutdruck in Anwesenheit der Ärzteschaft, wird der Blutdruck hingegen zu Hause gemessen, sind die Werte im Normalbereich.

TeilnehmerInnen der "Mobilise-d" schlüpfen in eine Radlerhose und bekommen mehrere kleine Sensoren an Waden, Oberschenkeln, Füßen und am Rücken angebracht. Ihre Bewegungen werden in der Klinik auch noch mit Kameras aufgezeichnet. Für die Zeit zu Hause bekommen die StudienteilnehmerInnen lediglich ein bis drei Sensoren mit, die sie eine Woche am Stück tragen können – dann müssen die Minicomputer eine Nacht lang aufgeladen werden. In regelmäßigen Abständen werden die Ergebnisse dann bei den ÄrztInnen ausgelesen. In der insgesamt zwei Jahre dauernden Studie tragen die TeilnehmerInnen ihre Sensoren zusammengenommen etwa zehn Wochen. Das Ziel ist am Ende ein System, mit dem die Qualität von Bewegung digital gemessen werden kann. "Mobilise-d" ist ein europaweites Forschungsprojekt mit einem Budget von insgesamt 50 Millionen Euro.

Digitale Mobilitätserfassung bei Morbus Huntington

Wie die Mobilität und das motorische Outcome bei Morbus Huntington über digitale Messungen beurteilt werden kann, stellte Dr. Ralf Reilmann, Founding Director des George-Huntington-Instituts vor.

Die Chorea Huntington ist eine neurodegenerative Erkrankung, die durch extrapyramidal-motorische Störungen (Hyperkinesien) und psychische sowie kognitive Probleme gekennzeichnet ist. Sie gehört zu den Trinukleotid-Erkrankungen; eine Mutation führt zur vermehrten Wiederholung des Basentripletts CAG im Huntington-Gen. Infolgedessen gehen Neuronen zugrunde, insbesondere in den Basalganglien. Das Erkrankungsalter ist von der Anzahl der Wiederholungen des Basentripletts abhängig, liegt aber typischerweise um das 40. Lebensjahr. Die Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt. 100.000 Menschen in der EU und Nordamerika leiden an den Symptomen.

Frühe Symptome sind psychiatrische Veränderungen, wie depressive Verstimmungen oder vermehrte Reizbarkeit. Im Verlauf kommt es zu den typischen choreatiformen Bewegungen mit plötzlich einschießenden Hyperkinesien des Gesichts und der distalen Extremitäten. In späten Stadien entwickelt sich meist eine zunehmende Demenz. Gesichert wird die Diagnose durch molekulargenetische Untersuchungen. Eine kausale Therapie der Erkrankung existiert nicht.

Q-Motor misst motorische Anzeichen bis zu zwei Jahrzehnte vor der klinischen Diagnose

Die Posturographie (Gleichgewichtsanalyse) ist ein Verfahren zur Ermittlung der Funktionsfähigkeit der Gleichgewichtsregulation unter Belastung der unteren Extremitäten. Eine Studie (Reilmann et al. Mov Disord, 2012) zeigt, dass die Posturographie nützliche objektive und quantitative Messungen der motorischen Dysfunktion bei Huntington liefern kann.

Eine Studie aus 2013 (Bohlen, Reilmann et al. Eur J Neurol, 2013) mit 12 Morbus Huntington PatientInnen zeigt, dass Physiotherapie (halbwöchentliche Intervention, die sich über einen Zeitraum von 6 Wochen auf Haltung und Gang konzentrierte) einen positiven Einfluss auf die Gangfähigkeit hat. Die Studie zeigt auch, dass objektive und quantitative Messungen (u.a. mit der GAITRite Matte und einer Kraftmessplatte) von Gang und Haltung als Endpunkte in Studien zur Beurteilung der Wirksamkeit der Physiotherapie dienen können.

Die "Unified-Huntington's Disease-Rating-Scale-Total-Motor-Score" (UHDRS-TMS) ist eine strukturierte Skala, die eine möglichst gut vergleichbare Bewertung des Schweregrades motorischer Symptome von Huntington PatientInnen in klinischen Studien zum Ziel hat.

Wie Reilmann berichtet (Reilmann R, Schubert R: Handb Clin Neurol. 2017) führte die Weiterentwicklung der Technologie zur Einführung der objektiven Q-Motor Bewertungen in Biomarker-Studien und klinischen Studien zu HD. Q-Motor misst erkannte motorische Anzeichen in verblindeten Querschnitts- und Längsanalysen von manifesten, prodromalen und prämanifesten HD-Kohorten bis zu zwei Jahrzehnte vor der klinischen Diagnose.

In einer multizentrischen klinischen Studie waren die Q-Motor-Messungen empfindlicher als das UHDRS-TMS. Derzeit werden Q-Motor-Messungen in mehreren multizentrischen Studien untersucht. Sie könnten das UHDRS-TMS ergänzen, die Sensitivität und Zuverlässigkeit von Proof-of-Concept-Studien erhöhen und die Tür für Phänotypbewertungen in klinischen Studien mit prodromaler und premanifester HD öffnen.

Die aktuelle Situation von Ganganalyse und Mobilitätserfassung bei kognitiven Störungen zeigte Prof. Dr. Klaus Jahn auf. PatientInnen mit kognitiven Störungen weisen keine spezifischen Veränderungen der Gangparameter auf. Räumliche Orientierung und Navigation sind bei kognitiven Störungen hingegen früh gestört.

Sensor-gestützte Mobilitätsanalysen werden bislang vor allem zum Lokalisations-Tracking und zum allgemeinen Registrieren der Aktivität genutzt. Studien zur Aktivitätsmessung von Demenzpatienten in häuslicher Umgebung liefern wechselnde Ergebnissen und neue Outcome-Parameter für klinische Studien bei PatientInnen mit MCI/Demenz werden dringend gebraucht. Bislang ist kein Standard etabliert.

Referenzen:
Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Kongresszentrum Stuttgart ICS 2019

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