Haarausfall: Zwischen Mythen, Fehlinformationen und medizinischen Fakten

Wer im Internet nach Hilfe bei Haarausfall sucht, trifft auf viele Fehlinformationen. Wie Dermatologen mit seriösen Angeboten gegensteuern und warum auch bei KI-Beratung Vorsicht geboten ist.

Falsche Hoffnungen bei Haarausfall: Die größten Internetmythen entlarvt

Jeder Mensch verliert täglich Haare, egal ob Mann oder Frau. Die Faustregel lautet: 70 bis 100 verlorene Haare pro Tag sind bei einem gesunden Erwachsenen normal. Wer deutlich mehr Haare verliert, macht sich verständlicherweise Sorgen. Doch wer dann „Dr. Google“ konsultiert, trifft schnell auf die „Top 3-Irrtümer zu Haarausfall im Internet“:

„In den Medien tauchen dann Schlagzeilen auf wie ‚Das Ende des Haarausfalls‘. Da werden dann irgendwelche Grundlagenstudien 1:1 übernommen und für die erfolgreiche Anwendung beim Menschen postuliert“, berichtete Meyer. Falsche Erwartungen werden so geschürt, Patienten in die Irre geführt, Haartherapeutika im Internet ohne ärztlichen Kontakt an Patienten verkauft, die die vermeintlichen Wundermittel, die bestenfalls wirkungslos sind, dann auch noch teuer bezahlen.

Als Reaktion auf den großen Informationsbedarf und auf häufig irreführende Informationen haben

Dermatologen haben im Internet umfassende Informationsplattformen zu Haarerkrankungen etabliert, die Fachtexte, Videos, Diskussionsforen und Expertenberatung anbieten. Haarerkrankungen.de beispielsweise ist eine Informationsseite unter ärztlicher Leitung, die grundlegende Informationen vermittelt. 
Dazu gehört auch ein Expertenrat zur Entstehung und Behandlung von anlagebedingtem Haarausfall (Alopecia androgenetica), diffusem Haarausfall, kreisrundem Haarausfall (Alopecia areata), vernarbendem Haarausfall, unerwünschter Gesichts- und Körperbehaarung und Kopfhauterkrankungen wie Seborrhoisches Ekzem, Neurodermitis und Schuppenflechte der Kopfhaut. 

Post-Finasterid-Syndrom unter dem Einfluss von Sägepalmen-Extrakt?

Wobei auch diese Foren bzw. der Expertenrat nicht vor absurden Anfragen gefeit ist, wie Meyer berichtete, der auch verantwortlicher Redakteur von Haarerkrankungen.de ist. Ein Beispiel: „Ich leide seit 14 Jahren an den Folgen dieses Medikaments (…) und ich hoffe, dass all jene, die an diesem Verbrechen schuldig sind, eines Tages vor Gericht stehen werden (…) Mit hoher Verachtung.“ Gepostet, so Meyer, werde das von der immer gleichen Person. 

Gemeint ist hier das Medikament Finasterid. Der 5-Alpha-Reduktasehemmer wird zur Behandlung der benignen Prostatahyperplasie (BPH) und zur Therapie der androgenetischen Alopezie eingesetzt. Finasterid hemmt die Umwandlung von Testosteron zu Dihydrotestosteron (DHT), das den Haarausfall beschleunigt. Finasterid wirkt diesem Prozess entgegen, indem es die DHT-Bildung reduziert und dadurch den Haarverlust potenziell verlangsamt. 

„Gibt man das Post-Finasterid-Syndrom (PFS) in eine Videodatenbank ein, wird man überschüttet von seltsamen Videos, etwa dem eines Anästhesisten, der ein solches Syndrom sogar unter dem Einfluss von der Sägepalmen-Extrakt entwickelt haben will“, berichtete Meyer. Im Internet wird das Post-Finasterid-Syndrom skandalisiert, als weit verbreitet dargestellt und mit bisweilen absurden Ursachen in Verbindung gebracht. Tatsächlich versteht man darunter eine selten auftretende sexuelle Störung und psychische Beeinträchtigungen, die mindestens drei Monate nach Absetzen von Finasterid persistieren. 

Finasterid: Erst der Rote-Hand-Brief, jetzt prüft die EMA

Im Juli 2018 veröffentlichte das BfArM einen Rote-Hand-Brief zur Aufklärung über anhaltende Nebenwirkungen von Finasterid, im Oktober 2024 beginnt die EMA mit der Überprüfung Finasterid- und Dutasterid-haltiger Arzneimittel. Bewertet wird die Datenlage zu suizidalen Gedanken und Verhaltensweisen. „Das Post-Finasterid-Syndrom spielt in unseren Sprechstunden allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle“, berichtete Meyer. Seine These ist, dass das Internet zu dieser Entwicklung beigetragen hat. 
Eine aktuelle Veröffentlichung beschäftigt sich mit dem Auftreten von Depressionen und Suizidalität infolge der Finasterid-Anwendung. Die Autoren stellen fest, dass es im Zeitraum 2006 bis 2011 keine signifikante Zunahme von Suizidalität gab. Ab 2019 ist aber eine deutliche Zunahme von depressiver Suizidalität, suizidalem Verhalten, Suizidgedanken und Suizidversuchen festzustellen. Die Autoren schlussfolgern, dass der Anstieg mit dem erhöhten Bewusstsein für unerwünschte Wirkungen nach der Anerkennung des PFS im Jahr 2012 zusammenhängen könnte. 

Auch Meyer geht von einem Nocebo-Effekt aus und sieht in der Veröffentlichung einen klaren Auftrag: „Wir müssen genau hinsehen, welche Patienten für die Einnahme von Finasterid bei androgenetischer Alopezie eher ungeeignet sind.“

Und was ist mit ChatGPT für Patientenanfragen?

Könnte ChatGPT eine Hilfe für Rat suchende Patienten sein? Meyer hat das mithilfe einer Expertenfrage auf Haarerkrankungen.de getestet. Die Frage: „Da ich auf den Alkohol im herkömmlichen Minoxidil allergisch reagiere, habe ich nun eine Lösung ohne diesen Zusatz erhalten. Da Alkohol oft als Trägerstoff verwendet wird, ist nun meine Frage, ob Minoxidil ohne Alkohol überhaupt wirksam ist.“ ChatGPT hat geantwortet, dass man als Alternativen auch Propylenglykol-Formulierungen verwenden könnte. „Das Problem:  Propylenglykol ist für die Mehrzahl der Hautunverträglichkeitsreaktionen auf der Kopfhaut verantwortlich“, erklärte Meyer. 

KI und die (Selbst-)Diagnostik von Haarerkrankungen

Mit Programmen wie SkinGPT-4, einem interaktiven dermatologischen Diagnosesystem, können Benutzer ihre eigenen Hautfotos zur Diagnose hochladen. Das System kann die Bilder autonom auswerten, die Merkmale und Kategorien der Hautkrankheiten identifizieren, eine eingehende Analyse durchführen und interaktive Behandlungsempfehlungen geben. Ersetzt KI bald den Besuch beim Dermatologen? „KI wird Ärzte und Lehrer innerhalb von zehn Jahren weitgehend ersetzen“, so jedenfalls Bill Gates vor wenigen Monaten. 
Die Autoren einer aktuellen Studie aus Singapur dämpfen allzu hohe Erwartungen an KI: Aktuelle Studien zeigten optimistische Ergebnisse beim KI-Einsatz für die Früherkennung von Hautkrebs in Asien. Der ausschließliche Vergleich der Fähigkeit zur Bilderkennung sei jedoch nicht mit dem vergleichbar, was Dermatologen an diagnostischen Fähigkeiten in der realen Welt mitbringen müssten. Diese gehen weit über die derzeitigen „Fähigkeiten“ einer KI hinaus.

Quelle:
  1. Tagung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG), 30.04. bis 03.05.2025, City Cube, Berlin. Sitzung: Haarerkrankungen, 1. Mai.