Multimedikation: Was ändert sich durch Leitlinien in der Praxis?

Multimedikation kann Behandlungsergebnisse beeinflussen und unerwünschte Wirkungen hervorrufen. Die gleichnamige Leitlinie macht auf die Notwendigkeit einer ausführlichen Dokumentation und regelmäßiger Kontrolltermine aufmerksam.

Multimedikation wird nicht genug hinterfragt

Elke Roeb ist Professorin für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Gastroenterologie an der Universität Gießen. In ihrem Vortrag beim DGIM-Kongress 2023 stellte sie die S3-Leitlinie Multimedikation und deren Updates vor. 

Zur Veranschaulichung der Problematik Multimedikation nutzte Roeb die Kasuistik eines 72-jährigen Mannes, der stationär wegen einer Pneumonie behandelt wurde und bei dem bereits mehrere Vorerkrankungen bestanden: Bluthochdruck, Stoffwechselstörung, erhöhter Harnsäurewert, arthritische Beschwerden. Der Patient nahm bereits folgende Medikamente ein: Ramipril, Hydrochlorothiazid, Amlodipin, Allopurinol und Atorvastatin. In der Klinik wurde eine eingeschränkte linksventrikuläre Pumpfunktion diagnostiziert und Metoprolol, Spironolacton und Empagliflozin verschrieben. Auch wenn es sich um eine leitliniengerechte Medikation gehandelt habe, nehme der Patient nach dem Klinikaufenthalt nun statt fünf acht Medikamente ein. Das ist gar keine Seltenheit, wie der aktuelle Arzneimittel-Kompass zeige.

Multimedikation in Deutschland sehr häufig

Der Arzneimittel-Kompass ermittelt regelmäßig die Häufigkeit von Multimedikation in Deutschland. Demnach erhielten im Jahr 2022 insgesamt 14 Prozent der im kassenärztlichen System geführten Patienten 5 Wirkstoffe und mehr, 6 Prozent erhielten 7 Wirkstoffe und mehr und immerhin 2 Prozent 10 Wirkstoffe und mehr. Das sei extrem viel, sagt Roeb. Deutschland sei eines der Länder, in denen Multimedikation sehr häufig vorkomme. Warum ist das so?

In einer AOK-Statistik zur Multimedikation bei ihren Versicherten aus dem Jahr 2020 nannte die Krankenkasse die Therapie der koronaren Herzkrankheit und die Herzinsuffizienz zusammengenommen als die häufigste Ursache für Multimedikation. 81,6 Prozent der Patienten erhalten mehr als 5 Dauermedikamente und 23 Prozent mehr als zehn. Weitere Erkrankungen, die mit vielen Medikamenten therapiert werden: Morbus Parkinson, Demenz, Diabetes Typ 2, COPD und Osteoporose.

“Leitliniengerecht dürften Patienten sogar 15 oder 20 Medikamente verordnet werden. Hier setzt die neue Leitlinie an. Denn es ist wahrscheinlich nicht gut, wenn wir diesen Patienten all das geben, was leitliniengerecht rezeptiert werden darf.”

Prof. Dr. Elke Roeb

Realistisches Behandlungsziel festlegen, dann verschreiben 

Bevor Ärzte einem Patienten ein neues Medikament verschreiben, sollten sie klären, was dieser wirklich benötigt, sagt die Referentin. Der Arzneimittel-Kompass empfehle, zuerst ein realistisches Behandlungsziel festzulegen und eine Interaktionsbewertung zu machen. "Man schaut sich den Patienten an, seine Präferenzen, und priorisiert. Was ist für diesen Patienten sinnvoll? Welche Erkrankungen sind es, die zu einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität und der Lebenserwartung führen und was ist individuell bei diesem einzelnen Patienten überhaupt notwendig?" Die Leitlinie differenziere hier noch einmal: Vor dem Verordnen oder Absetzen eines Medikamentes solle man sich die Zielgruppe anschauen und nach folgendem Muster vorgehen: 

  1. Bestandsaufnahme und Bewertung: Welche Diagnosen hat der einzelne Patient bekommen?
  2. Abstimmung mit dem Patienten: Wo hat er Symptome?
  3. Verordnungsvorschlag: dieser müsse mit dem einzelnen Patienten kommuniziert werden, dabei würden auch einzelne Präparate abgesetzt werden
  4. Arzneimittelabgabe: dann erst sollte der Patienten das Rezept mit den unterschiedlichen Präparaten erhalten
  5. Arzneimittelanwendung/ Selbstmanagement durch den Patienten: Notizen zu eventuell auftretenden Nebenwirkungen
  6. Monitoring: Follow-up-Termin, wo das ganze nochmal erneut diskutiert wird, dann erneute Bestandsaufnahme und Bewertung jedes einzelnen Präparates sowie jeder einzelne Erkrankung und der Symptome des Patienten. 

Das Problem in der Praxis: Dieses Verfahren des Medikationsüberprüfung sei sehr arbeitsintensiv und sehr zeitintensiv, erklärte Roeb. Eine Medikationsüberprüfung sollte nach der neuen Leitlinie mindestens einmal jährlich durch den Hausarzt erfolgen. Nur dann erhalte der Arzt Hinweise auf die Folgen der Multimedikation: die Nebenwirkungen.

Die zwei häufigsten Nebenwirkungen von Multimedikation

1. Anticholinerges Risiko

Anticholinerge Nebenwirkungen sind zum Beispiel Verstopfung, Mundtrockenheit oder Sehstörungen. Dies sind Medikamente, die anticholinerg wirken, eingeteilt in starke, mäßige und schwache Effekte:

Stark anticholinerg Anticholinerg Schwach anticholinerg
Amitriptylin Amantadin Carbidopa-Levodopa
Atropin Baclofen Entacapon
Chlorphenamin Cetirizin Haloperidol
Carisoprodol Cimetidin Metoclopramid
Chlorpromazin Clozapin Mirtazapin
Diphenhydramin Desipramin Paroxetin
Fluphenazin Loperamid Pramipexol
Hydroxizin Loratadin Quetiapin
Hyosciamin Nortriptylin Ranitidin
Imipramin Olanzapin Risperidon
Oxybutynin Pseudoephedrin Selegilin
Perphenazin Tolerodin Trazodon
Promethazin Ziprasidone
Tizanidin
 

Roeb zeigte dafür ein Beispiel mit sehr häufig verschriebenen Medikamenten: Ein Patient erhält das Antidepressivum Amitriptylin, das sehr stark anticholinerg wirkt. Gegen die entstandene Verstopfung nimmt der Patient darum Loperamid ein und gegen die Übelkeit Metoclopramid, außerdem erhält er bereits Ranitidin. Das sei keine außergewöhnliche Situation. Aber bei vier Präparaten mit stark anticholinerger Wirkung würde der Patient starke Symptome zeigen. Weil der Patient diese Nebenwirkungen spüre, könne er dies seinem behandelnden Arzt kommunizieren. Anders sehe es bei der zweiten Nebenwirkung aus.

2. Verlängerung der QT-Zeit

Je höher die QT-Zeit, desto höher das Risiko für Herzrhythmusstörungen. Eine QT-Zeitverlängerung muss der Patient nicht unbedingt verspüren. Darum sollten behandelnde Ärzte immer wieder überprüfen, welche Präparate sie verschreiben. In der folgenden Liste sind Wirkstoffe aus der jeweiligen Indikationsgruppe aufgeführt, die eine QT-Zeit-Verlängerung verursachen können: 

Indikationsgruppe Wirkstoffe (Beispiele)
Antibiotika Azithromycin, Clarithromycin, Erythromycin, Ciprofloxacin, Levofloxacin, Moxifloxacin, Ofloxacin, Trimethoprim-Sulfamethoxazol
Antidepressiva                                            Amitriptylin, Citalopram, Escitalopram, Doxepin, Fluoxetin, Imipramin
Antiemetika Granisetron, Ondansetron
Antihistaminika Terfenadin
Antimykotika Fluconazol, Ketoconazol
Antipsychotika Chlorpromazin, Clozapin, Droperidol, Fluphenazin, Haloperidol, Olanzapin, Pimozid, Paliperidon, Quetiapin, Risperidon
Asthmamittel Salbutamol, Salmeterol, Terbutalin
antiparasitäre Mittel Chinin, Chloroquin, Mefloquin, Pentamidin
Virustatika Amantadin
andere Wirkstoffe Amiodaron, Alfuzosin, Octreotid, Tacrolimus, Tamoxifen, Vardenafil

Am Bespiel einer 60-Jährigen Patientin mit Mammakarzinom erklärt Roeb mögliche Folgen der Multimedikation. Die Patientin bekam zur Therapie eines Infektes das Antibiotikum Clarithromycin. Sie nahm bereits das Krebsmedikament Tamoxifen, und aufgrund einer daraus resultierenden Depression Citalopram und Ondansetron. Außerdem war sie Allergikerin und Asthmatikerin, therapierte dies mit Terfenadin und Salbutamol. "Ohne Zwang bekommt diese Patientin insgesamt sechs Präparate, die alle eine QT-Zeit-Verlängerung zur Folge haben. Bereits zwei davon könnten zu einem AV-Block führen. Jedes dieser Präparate (mit Ausnahme von Tamoxifen) kann durch andere Präparate ersetzt werden, die vielleicht keine QT-Zeit-Verlängerung im Nebenwirkungsprofil aufweisen." Daher sei es extrem wichtig, jedes Medikament nicht nur auf seine Nebenwirkungen hin zu untersuchen, sondern auch zu überdenken, welche Nebenwirkungen durch mehrere Präparate gleichzeitig ausgelöst werden könnten? Darum sollte bei Einnahme dieser Medikamente immer wieder ein EKG gemacht werden, um die QT-Zeit zu messen und zu überwachen.

Ursachen der Polymedikation

Fast immer sei die Ursache für Multimedikation eine fehlende Übersicht, meint Roeb. Häufig werde eine befristete Therapie weiter fortgeführt. Seit einigen Jahren seien behandelnde Ärzte in der Pflicht, im Therapieplan einen Hinweis darauf zu geben, wann eine Medikation beendet werden kann. Oft werde eine Bedarfsmedikation als Dauertherapie fortgesetzt. Auch hier fehle oft eine Dokumentation mit Hinweis im Verordnungsplan. Sobald eine Dauertherapie nicht mehr gerechtfertigt sei, müsse die Dauermedikation überprüft und Präparate abgesetzt werden, die nur gegeben würden, um die Nebenwirkungen durch ein Medikament auszugleichen. In einer Palliativsituation ändere sich die Priorisierung und dann sei es oft nicht mehr erforderlich, die hohe Harnsäure zu therapieren. Prinzipiell sollte man reduzieren und alles, was nicht der Symptomkontrolle diene, absetzen, insbesondere die Medikation mit Nebenwirkungen.

Wie lässt sich Multimedikation verhindern?

Die Leitlinie empfiehlt, verschiedene Bewertungsdimensionen (MAI) anzuwenden:

  1. Indikation: 
  1. Dosierung:
  1. Medikationsplan/ Einnahmevorschriften:
  1. Unterversorgung: Wird jede behandlungsbedürftige Indikation therapiert? Beschwerdefreiheit erreichen?
     
  2. Wirtschaftlichkeit: Wurde die kostengünstigste Alternative gewählt?

Unterversorgung trotz Multimedikation

Es gebe Patienten, die zahlreiche Medikamente einnehmen und bei denen Nebenwirkungen auftreten, die nicht behandelt seien. Klage ein Patient während der Opioid-Behandlung über Obstipation, müsse die Laxantien-Verordnung erfolgen, sagt Roeb. Andernfalls habe man im Bezug auf die Beschwerdefreiheit des Patienten nichts erreicht. Es gebe zahlreiche Medikamente, die die Lebenszeit verlängern und immer eingenommen werden müssten, wie Betablocker und Thrombozytenaggregationshemmer. In der folgenden Tabelle sind Indikationen aufgeführt und Medikamente, die oft während der Therapie rezeptiert werden müssten, weil Nebenwirkungen entstehen:

Symptom/Diagnose/
Situation

Oftmals fehlende Medikation trotz
Evidenz für Wirksamkeit

Schmerzbehandlung mit Opiaten Laxans
Mykardinfarkt/ KHK Beta-Blocker; TAH
Herzinsuffizienz ACE-Hemmer, Betablocker
Vorhofflimmern Orales Antikoagulanz
Osteoporose Bisphosphonate
Hypercholesterinämie Statin
Hypertonie Antihypertensiva
Schlaganfall, TIA, PAVK Thrombozyten-
Aggregationshemmer
NSAID bei Risikopatienten (z.B. Ulkusanamnese) Protonenpumpenhemmer

Ausführlicher Medikationsplan kann Multimedikation verhindern

Gerade ältere Patienten hätten oft keinen guten Überblick über ihre Medikation, ein Medikationsplan sei darum eine enorme Hilfe. Er mache aber nur Sinn, wenn er vollständig ausgefüllt und regelmäßig überprüft werde. Im Medikationsplan sollten Wirkstoff und Handelsname des Präparates aufgeführt werden, der Grund für die Verschreibung (Bluthochdruck, Blutzucker) sowie Angaben zu Stärke, Darreichungsform und Anzahl der einzunehmenden Präparate samt wichtiger Hinweise. 

Die Abstimmung mit dem Patienten sollte mit Hilfe des Medikationsplans erfolgen und dort auch dokumentiert werden. Patienten sollten zu ihren bevorzugten Therapien befragt werden. Das könne individuell sehr unterschiedlich sein, denn jeder Patient setze andere Prioritäten und darum müsse der Medikationsplan anders gewichtet sein. 

Hier helfe ein Algorithmus aus der Leitlinie: 

  1. Gibt es eine konzentrierte Evidenz für den Einsatz des Arzneimittels in der vorliegenden Dosierung in der Altersgruppe des Patienten und bei entsprechender Beeinträchtigung? Wenn die Frage nicht sicher beantwortet werden kann, geht man der Reihe nach vor. 
  2. Ist die Indikation für die Altersgruppe, also für den individuellen Patienten, gegeben? Wenn diese Frage mit Nein beantwortet wird, dann muss man das Präparat absetzen. Wenn die Indikation gegeben ist, fragt man nach den Nebenwirkungen
  3. Überwiegen die bekannten möglichen Nebenwirkungen des Medikaments den Nutzen bei diesem individuellen Patienten? Wenn diese Frage bejaht wird, dann sollte man das Präparat wechseln. Wenn die Nebenwirkungen nicht den Nutzen überwiegen, kann man die Fragen weiter durchgehen.
  4. Gibt es Nebenwirkungen? Wenn es keine oder keine bekannten Nebenwirkungen gibt oder jedenfalls keine, dann sollte man überlegen: 
  5. Gibt es ein überlegenes Arzneimittel als das verwendete? Vielleicht eines, das weniger Substanzmenge hat, was spezifischer wirkt oder einfach moderner ist, weil es als Kombinationspräparat vorhanden ist? Wenn der Patient das beste Präparat, was es im Moment auf dem Markt gibt, das mit den wenigsten Nebenwirkungen und was am einfachsten einzunehmen ist, dann kann man es in der behandelten Form weitergeben. Dann kann man sich nur noch fragen:
  6. Kann die Dosis risikoarm reduziert werden? Wenn man aber die Dosis reduzieren kann oder ein anderes Präparat einsetzen kann, sollte man das auch tun.
     
Quelle:

Prof. Dr. Elke Roeb: Multimedikation, in: Was ändert sich durch neue Leitlinien in der Praxis? 129. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. 22.04.2023, 16.55 Uhr.