ESC-Leitlinien zum Chronischen Koronarsyndrom

Prof. Schächinger prüft kritisch die Praxistauglichkeit des neuen Diagnose-Algorithmus und offenbart Diskrepanzen zwischen Leitlinienempfehlungen und klinischer Realität.

Neuer Diagnose-Algorithmus: Bildgebung je nach KHK-Wahrscheinlichkeit

Die neuen ESC-Leitlinien zum CCS räumen den nicht-obstruktiven Erkrankungen, INOCA und ANOCA, einen größeren Stellenwert ein. Sie liegen bei etwa der Hälfte der Personen mit Verdacht auf CCS vor. Bei niedriger bis moderater Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK (>5% bis 50%) wird die koronare CT-Angiographie empfohlen, während eine funktionelle Bildgebung (Stress-Echo, SPECT, PET oder MRT) bei hoher Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK (>50% bis 80 %) erfolgen soll. 

Bei sehr hoher klinischer Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK (> 85 %), schweren Symptomen, die nicht auf eine medizinische Therapie ansprechen, Angina pectoris bei geringer Belastung und/oder hohem Ereignisrisiko, empfehlen die Autoren der Leitlinie eine invasive Koronarangiographie.

Für den Diagnose-Algorithmus ist vor allem die klinische Wahrscheinlichkeit maßgeblich, die durch ein neues Prognosemodell mit höherer Genauigkeit bestimmt werden kann. Bei sehr geringer klinischer Wahrscheinlichkeit sind keine weiteren Untersuchungen notwendig, während bei niedriger bis moderater Wahrscheinlichkeit die CT-Angiographie empfohlen wird. Invasive Tests sollten dagegen nur bei hoher Wahrscheinlichkeit erfolgen. 

„In den neuen Empfehlungen ist sehr schön vorgegeben, was bei welcher Wahrscheinlichkeit zu tun ist, das ist erfreulich“, sagte Schächinger. Die Frage sei allerdings, wie die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln ist. Für die unteren und mittleren Prozentbereiche zwischen 0% und 50% sei das noch gut definiert, unter anderem durch Symptome (maximal 3 Punkte) und Risikofaktoren (maximal 5 Punkte).

Doch basierend auf den neuen Tabellen kommt man bei keinem Patienten auf eine Wahrscheinlichkeit von über 50% für das Vorliegen einer koronaren Herzerkrankung (KHK). Infolgedessen müssten sich dann viele Patienten nur einer CT-Angiographie unterziehen. „Die klinische Wahrscheinlichkeit für KHK ist entscheidend für das Vorgehen, aber die Bestimmung bleibt in Teilen im Ungefähren“, konstatierte Schächinger. 

Bedeutung der intrakoronaren Funktionsdiagnostik 

Bei der Klasse-1-Empfehlung für die intrakoronare Druckmessung zur Evaluierung von Stenosen mittels FFR oder iFR stelle sich die Frage, wie weit die Umsetzung in der Praxis bis dato erfolgt ist. Schächinger verwies darauf, dass es schon in den 2010er Jahren eine niedrige Rate an Druckdrahtmessungen gab – trotz Leitlinienempfehlung. Für 2020 zeigt der Deutsche Herzbericht, dass die Rate bei 20% liegt, was schon mal besser sei. Aber ist das schon das Optimum? „Ich glaube, dass 20% noch viel zu wenig ist“, sagte Schächinger. Die Klasse-1-Empfehlung zeige, dass die LL recht weit von der Praxis entfernt sei.

Ein weiterer Aspekt ist die intrakoronare Bildgebung mit IVUS und OCT bei komplexen Läsionen. Bei diesen soll die PCI mit intravaskulären Verfahren zur Bildgebung (IVUS oder OCT) zusätzlich zu Druckmessungen erfolgen.  „Offenbar gibt es – wenn man in den Deutschen Herzbericht schaut – in Deutschland nur 8 Prozent komplexe Läsionen“, so Schächinger. Die niedrige Rate wird im Herzbericht aufgegriffen und kritisiert. Die Autoren des Herzberichts schreiben dazu: „Die intravaskuläre Bildgebung wird trotz Nachweis der Überlegenheit gegenüber der Angiographie nur bei 10% aller PCI in Deutschland eingesetzt. Schächinger betont, dass auch da mehr notwendig ist, denn IVUS oder OCT sind eine Klasse 1-Empfehlung in der ESC-LL.

Wie zuverlässig ist der SYNTAX-Score für die Entscheidungsfindung?

Schächinger kritisiert die Indikationsqualität PCI bei Diabetes und Mehrgefäßerkrankung. Denn bei signifikanten Stenosen in allen 3 Koronargefäßen wird die Entscheidungsfindung etwas komplexer. Hier sollte der aus den SYNTAX-Studien entwickelte und letztlich zum SYNTAX-II verfeinerte Score laut den Leitlinien zur Strategiefindung herangezogen werden, also klären, ob eine PCI infrage kommt oder ob doch besser chirurgisch vorgegangen werden sollte. In der ESC-LL ist das eine 1-B-Empfehlung. „Die Frage ist allerdings – wie zuverlässig und praxisalltagstauglich ist das“, merkte Schächinger an und verweist auf das Problem der Interobserver-Variabilität. 

Die Variabilität könnte sich bei Patienten mit Mehrgefäßerkrankungen und Diabetes zeigen: „Wenn es schwierig ist, die Mehrgefäß-Erkrankung anhand des Syntax-Scores zu definieren, dann ist es vielleicht auch schwierig zu sagen, dass es sich um eine klare Dreigefäßerkrankung für eine Bypass-OP handelt. Man könnte ja auch sagen, dass die Läsion nicht so schlimm ist und diese stattdessen dilatieren“, gab Schächinger zu bedenken. 

Gerade bei Mehrgefäßerkrankungen sollte jedoch chirurgisch interveniert werden. Schächinger verweist auf die Ergebnisse einer israelischen Studie, in die Patienten mit Diabetes und Dreigefäßerkrankung eingeschlossen waren. Es zeigte sich, dass die Hälfte der Patienten, die eigentlich eine Indikation zur OP hatten, interventionell behandelt wurden. „Entsprechend war deren Prognose auch schlechter“, warnte Schächinger. 

Beispiel für eine krasse Fehleinschätzung

Schächinger berichtete von einer 70-jährigen Patientin mit Diabetes und normaler LVEF. Sie war körperlich sehr aktiv, entwickelte dann aber eine Angina pectoris bei leichter Belastung. Die Patientin berichtete, dass sie schon zwei Mal im Katheterlabor war. Einmal wurde RCX und einmal RIVA dilatiert, aber die Patientin konnte nach eigener Aussage immer noch keine Treppen steigen. 

Im Befund sind der RCX-Stent und der RIVA-Stent zu sehen, doch das RCX-Ostium ist immer noch eng, der RIVA noch weiter eingeengt (es liegt eine hochgradige, langstreckige, proximale RIVA-Stenose vor). „Wenn man das sieht, ist eigentlich klar, dass die Patientin noch Beschwerden hat.“ Die Patientin unterzog sich dann einer minimalinvasiven Bypass-OP mit linkslateraler Thorakotomie. „Ich habe sie unlängst getroffen. 70 Kilometer lange Radtouren am Bodensee sind jetzt wieder beschwerdefrei möglich“. Schächinger bezeichnete den Fall der 70-jährigen Patienten als „Beispiel für eine krasse Fehleinschätzung“. 

Zum in der Leitlinie empfohlenen Ziel-LDL < 55 mg/dl merkte Schächinger an, dass die LDL-Zielerreichung in der Praxis „weit von der Leitlinie entfernt“ ist. Die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2018 aus Deutschland zeigen: Damals lag das Ziel-LDL noch bei < 70 mg/dl und selbst das hatten nur 9 bis 11% der KHK-Patienten erreicht, einen Wert von <100 erreichten auch nur 50%. „Das ist ein ziemlich desaströses Ergebnis, auch für die damaligen Leitlinien. Strukturierte Vorgaben reichen hier nicht, die lokale Ergebniskontrolle ist wichtig“, resümiert Schächinger.  

Quellen:
  1. 91. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), 23. bis 26. April 2025, Congresscentrum Rosengarten, Mannheim.
    https://herzmedizin.de/fuer-aerzte-und-fachpersonal/kongresse/dgk-jahrestagung-2025.html
    Sitzung: Chronisches Koronarsyndrom, 25. April

https://academic.oup.com/ejcts/article/56/2/328/5364295#google_vignette (Studie)

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29197254/ (Studie)