Oft übersehen: die frühe Krankheitsaktivität bei MS

Bei einer jungen Frau mit plötzlichen Sehstörungen und Lähmungserscheinungen wird jeder Neurologe hellhörig. Doch wer würde bei einer unspezifischen Fatigue oder gedrückten Stimmung an eine sich anbahnende MS denken?

Wissenswertes zum Verlauf der MS auf einen Blick:

Bis die Diagnose einer Multiplen Sklerose steht, können Jahre vergehen. Viele Patienten nehmen das Gesundheitssystem in dieser Zeit bereits vermehrt in Anspruch. Sie leiden unter starker Müdigkeit, Konzentrationsstörungen oder Schmerzen und sind in ihrer Arbeitsfähigkeit zunehmend eingeschränkt.

Stille Progression senkt Lebensqualität

Inzwischen weiß man, dass bereits in dieser frühen Phase ein neuroaxonaler Schaden besteht. Bekannt ist auch, dass eine frühzeitige Behandlung entscheidend ist, um die Progression möglichst lange aufzuhalten. Doch die gängigen Diagnose-Scores sind begrenzt. So bildet etwa die EDSS (Expanded Disability Status Scale) die unterschwelligen Defizite zu Beginn und im Verlauf der Erkrankung nur unzureichend ab.

Dabei sind es oft gerade die schleichenden Symptome, die für die Patienten selbst am belastendsten sind. 65% der Betroffenen mit RRMS empfinden unabhängig von den Schüben eine Verschlechterung ihrer Lebensqualität, vor allem durch Fatigue und Konzentrationsprobleme. 

Für diese stille, schubunabhängige Progression hat sich ein eigener Begriff etabliert, die sogenannte PIRA (progression independent of relapse activity). RWE-Daten zeigen, dass sie schon zu Beginn der MS neben der klassischen schubabhängigen Progression (relapse associated worsening, RAW) bestehen kann und im Verlauf immer größeres Gewicht bekommt. Risikofaktoren sind u. a. ein höheres Alter sowie eine fehlende Immuntherapie. 

Herausforderung PIRA: Schubtherapie alleine reicht nicht

Ein weiteres Problem: Viele derzeit verfügbare Immuntherapien können zwar die Schubrate effektiv reduzieren und die Bildung neuer Läsionen im ZNS verhindern, haben jedoch wenig Einfluss auf die stille, schubunabhängige Progression. Hier hat Cladribin, das im Jahr 2017 als erste orale Impulstherapie bei der hochaktiven schubförmigen MS zugelassen wurde, enorme Fortschritte gebracht. Es verringert nicht nur die Schubrate um 80–90%, sondern hemmt auch die Krankheitsprogression. Diese langanhaltende Wirkung könnte auf die Depletion von Memory-B-Zellen zurückgehen, die im Gegensatz zu CD19- und CD20-Zellen durch die Therapie dauerhaft reduziert bleiben.

Daneben verbessert sich die Lebensqualität unter Cladribin signifikant und nachhaltig. Schließlich überzeugt nach sechs Jahren Zulassung auch das Sicherheitsprofil. Die Malignomgefahr ist gering, opportunistische Infektionen treten selten auf. Auch die Immunantwort auf die Grippeimpfung wird durch die Cladribin-Tabletten nicht geschmälert. Einzig für Herpes zoster besteht, wie bei allen Immuntherapien, ein relevant höheres Risiko.

All dies hat dazu geführt, dass mit Cladribin erstmals eine MS-Therapie als innovatives Behandlungskonzept Eingang in die Liste der essenziellen Arzneimittel der WHO gefunden hat. 

Fazit für die Praxis

Die Multiple Sklerose kann lange Zeit schwelend verlaufen und nur unspezifische Symptome hervorrufen. Diese frühe, unterschwellige Krankheitsaktivität zu erkennen und richtig zu deuten, ist eine wichtige Aufgabe der behandelnden Neurologen. Denn mit einem frühzeitigen Behandlungsbeginn kann die Progression der Erkrankung aufgehalten oder deutlich abgemildert werden. 
 

DGN Kongress 2023: Neurodegenerative Erkrankungen im Fokus 

Der DGN-Kongress 2023 findet vom 8. bis zum 11. November im CityCube Berlin statt und legt den Fokus auf neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie stellt mit ihrem Programm die neurologischen Folgen einer alternden Gesellschaft in den Mittelpunkt. esanum berichtet vom DGN Kongress. Hier finden Sie die aktuelle Berichterstattung.

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