- Viszeralmedizin 2025, 15. bis 20. September, Congress Center Leipzig CCL
https://www.viszeralmedizin.com/ Sitzung: Was tun bei Reizdarm?, 18. September.
Das Reizdarmsyndrom ist eine häufige funktionelle gastrointestinale Erkrankung, die Patienten mit vielfältigen Symptomen belastet. Die Vorträge zeigten praxisnahe Leitlinien zur Diagnostik und gaben einen Einblick in die komplexen pathophysiologischen Mechanismen sowie moderne Behandlungsstrategien.
PD Dr. Miriam Stengel, Chefärztin am Klinikum Sigmaringen, eröffnete mit einem umfassenden Überblick zur Diagnostik des Reizdarmsyndroms. Sie betonte, dass es zu funktionellen Erkrankungen wie Reizdarm, Reizmagen und Obstipation hochwertige Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) gibt, die gut strukturiert und im Alltag hilfreich sind.
Die Diagnose basiere primär auf der sorgfältigen Erfassung der Symptome wie Bauchschmerzen, Blähungen, Stuhlveränderungen und Völlegefühl. Wichtig sei die Einordnung der Beschwerden in Bezug auf Lokalisation und Häufigkeit sowie die Berücksichtigung der Lebensqualität der Patienten. Das müsse möglichst detailliert erfolgen, da die subjektive Wahrnehmung bei vielen Beschwerden eine Rolle spiele. Stengel empfiehlt zum Beispiel das Bristol Stool Chart. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind von einem Reizdarm oder Reizmagen betroffen, wobei Frauen und jüngere Menschen häufiger darunter leiden.
Stengel erläuterte die Notwendigkeit einer gezielten Ausschlussdiagnostik relevanter Differentialdiagnosen wie Kolon- und Ovarialkarzinom, Zöliakie, mikroskopische Colitis und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED). Dabei sollten seltene Erkrankungen nicht überdiagnostiziert werden. Die Anamnese, körperliche Untersuchung, Laborparameter (inklusive Calprotectin und Zöliakie-Antikörper) sowie Ultraschall und gynäkologische Untersuchungen bilden die Basisdiagnostik. Sie warnte aber auch vor unnötigen Wiederholungsuntersuchungen. Schließlich sollten Ärzte ihrer Diagnose vertrauen und die Patienten entsprechend behandeln.
Prof. Dr. med. Robert Patejdl, Professor für Physiologie an der HMU in Erfurt, vertiefte die pathophysiologischen Grundlagen des Reizdarmsyndroms und stellte neue therapeutische Ansätze vor. Er erläuterte die autonome Funktion des Darms und die komplexe Steuerung der Motilität durch neuronale Netzwerke, insbesondere die Rolle der Schrittmacherzellen und enterischen Neurone.
Die Darm-Hirn-Achse sei ein zentrales Element, wobei Stressachsen und neuroendokrine Faktoren die Darmfunktion beeinflussen. Veränderungen im enterischen Nervensystem und eine Überempfindlichkeit der Darmwand führen zu den typischen Symptomen. Die Rolle des Mikrobioms wurde differenziert betrachtet: Es beeinflusst die Darmfunktion über metabolische Signale, etwa durch kurzkettige Fettsäuren, und moduliert die Serotoninfreisetzung aus enterochromaffinen Zellen. Deren Bedeutung beim Reizdarmsyndrom sei hoch: “Eine reizarme für enterochromaffinen Zellen ist kurzfristig effektiv gegen die Symptome. Das unterstreicht ihre pathophysiologische Bedeutung.” Hier sieht Patejdl noch viel Forschungsbedarf. Denn es bestehe eine auffällige Assoziation zwischen der Nahrungsaufnahme und Reizdarm-Beschwerden, die nicht durch Allergien oder Unverträglichkeiten zu erklären sei. Die Ursache könnte in einer unterschiedlichen Verarbeitung des Mikrobioms liegen und damit in einem anderen Funktionsstatus der Nervenzellen im Darm.
Apparative Funktionsdiagnostik beim Reizdarmsyndrom
PD Dr. Jutta Keller, Leiterin der Funktionsdiagnostik am Israelitischen Krankenhaus in Hamburg, widmete sich in ihrem Vortrag der apparativen Funktionsdiagnostik, die bei komplexen Fällen des Reizdarmsyndroms ergänzend eingesetzt werden kann. Hierzu zählen Atemtests zur Diagnose von Kohlenhydratintoleranzen und bakterieller Fehlbesiedlung, anorektale Manometrien bei Stuhlentleerungsstörungen sowie Magenentleerungstests bei Verdacht auf Gastroparese.
Keller betonte, dass eine umfassende Basisdiagnostik und probatorische Therapieversuche meist ausreichen. Apparative Untersuchungen sollten nur bei Patienten mit atypischen oder therapieresistenten Verläufen erfolgen, da sie kostenintensiv und nicht immer flächendeckend verfügbar sind.
Prof. Dr. Martin Storr vom Zentrum für Endoskopie in Starnberg sprach über die Bedeutung neuromodulatorischer Medikamente wie Amitriptylin und Escitalopram. Er betonte, dass diese Therapien oft unterschätzt werden, obwohl sie eine hohe Wirksamkeit bei Reizdarmsymptomen zeigen. Darüber hinaus verwies er auf digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) als wichtige Unterstützung. Diese Apps bieten zum Beispiel psychoedukative Inhalte, Ernährungsberatung und Symptomtracking und können Patienten helfen, ihre Beschwerden besser zu managen. Sie tragen auch zur Entlastung der Ärzte bei, die nicht jedes Detail ausführlich während der Sprechstunden durchgehen können. Storr warnte aber auch vor unrealistischen Erwartungen der Patienten, die schnelle orale Lösungen suchen, und plädierte für eine ganzheitliche Behandlung, die Empathie, Aufklärung und Selbstmanagement fördert.
Die Vorträge auf dem DGVS-Kongress Leipzig zeigten, dass die Diagnostik des Reizdarmsyndroms in erster Linie auf einer fundierten Anamnese und gezielten Ausschlussdiagnostik basiert. Funktionsdiagnostische Verfahren sind bei ausgewählten Patienten sinnvoll, sollten aber nicht überstrapaziert werden.
Die Pathophysiologie des Reizdarms ist komplex und umfasst neuronale, immunologische und mikrobielle Faktoren. Moderne Therapien setzen auch auf neuromodulatorische Medikamente. Digitale Anwendungen können die Patienten in ihrem Alltag unterstützen.
Wichtig ist eine patientenzentrierte Kommunikation, die eine realistische Therapieerwartung schafft.