esanum: Frau Dr. Stefani, Ihr Vortrag beim diesjährigen EAN Congress widmet sich dem Thema „6 Millionen Jahre Evolution. Passen wir in unsere heutige Gesellschaft?“ Salopp gefragt: Haben wir uns gut genug an Handy und Co. angepasst?
Dr. Ambra Stefani: Ich glaube, wir haben uns noch nicht optimal angepasst. Obwohl wir einige Adaptionsmöglichkeiten besitzen, zeigen Begriffe wie deutlich, dass wir ein Problem mit der Anpassung an die moderne Gesellschaft haben. Social Jetlag beschreibt die Diskrepanz zwischen unserem biologischen Rhythmus und dem gesellschaftlichen Rhythmus. Dies betrifft bereits einen großen Teil der Bevölkerung. Obwohl es wenige epidemiologische Daten gibt, leiden laut Daten aus Brasilien wahrscheinlich bis zu über 70 Prozent der Gesamtbevölkerung darunter, wobei die klinisch relevanten Fälle bei etwa 13 Prozent liegen könnten. Gesellschaftliche Zeitgeber, wie Arbeitszeiten, Schulbeginn oder frühe Meetings, sowie lange Pendelzeiten führen dazu, dass insbesondere Menschen mit einer Präferenz für späte Schlafzeiten Schwierigkeiten haben, früh einzuschlafen. Dies resultiert in einem chronischen Jetlag und langfristig in .
esanum: Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Schlafmedizin. Welche Zusammenhänge sind bekannt oder im Fokus der Forschung? Was haben Schlafmuster mit der Fähigkeit zur Anpassung zu tun?
Dr. Ambra Stefani: Im Schlaflabor sehen wir Patienten, die aufgrund von “Social Jetlag" und chronischem Schlafmangel Beschwerden entwickeln. Es ist bekannt, dass Social Jetlag weitreichende Konsequenzen hat. Er ist mit einem erhöhten Risiko für verschiedene sowie psychiatrische Störungen wie Depressionen verbunden und kann auch das Risiko für kardiovaskuläre und metabolische Erkrankungen wie Diabetes erhöhen. Diese Nicht-Adaptation an die gesellschaftlichen Zeitgeber hat somit weitreichende Auswirkungen auf unseren gesamten Organismus.
esanum: Welche Chronotypen unterscheiden Sie und wie sind sie in Bezug auf Anpassungsfähigkeit einzuordnen?
Dr. Ambra Stefani: Die meisten Menschen gehören einem normalen Chronotyp an. Extreme Früh- oder Abendtypen sind eher selten. Dennoch können auch Personen mit einer moderaten Präferenz für späte Schlafzeiten unter den gesellschaftlich fixierten Arbeits- oder Schulzeiten leiden, besonders über längere Zeiträume.
Im Vortrag ging es auch darum, wie sich Chronotypen evolutionär entwickelt haben. In früheren Gesellschaften, die enger mit der Natur lebten und in Gruppen schliefen, oft im Freien mit Feuer als Schutz, war es vorteilhaft, wenn immer jemand wach war. Dabei ging es nicht um erzwungenes Wachbleiben, sondern um eine natürliche Verteilung der Wachphasen. Studien an rezenten Naturvölkern in Afrika oder Südamerika zeigen, dass zu über 99 Prozent der Nachtzeit mindestens ein Gruppenmitglied wach ist. Der Grund dafür sind die unterschiedlichen Chronotypen innerhalb der Gruppe: Manche schlafen früher und wachen früher auf, andere umgekehrt. Dies bot wahrscheinlich einen Überlebensvorteil für die Gruppe und wurde evolutionär selektiert. Daher gibt es wohl auch in unserer heutigen Gesellschaft unterschiedliche Chronotypen.
esanum: Gibt es Vor- oder Nachteile bezüglich der Leistungsfähigkeit für Frühmenschen oder die Abendmenschen?
Dr. Ambra Stefani: In unserer aktuellen postindustriellen Gesellschaft haben die Frühmenschen einen Vorteil, da Pünktlichkeit und frühe Arbeitszeiten oft als produktiver angesehen werden. Biologisch gesehen gibt es jedoch keinen inhärenten Vorteil eines Chronotyps gegenüber einem anderen. Aus biologischer Sicht deutet alles darauf hin, dass eine Vielfalt an Chronotypen für die Gesellschaft von Vorteil war, zumindest in der Vergangenheit.
esanum: Ein weiterer sehr wichtiger Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang von Schlafstörungen und dem Risiko einer Demenz. Gibt es dazu neue Erkenntnisse?
Dr. Ambra Stefani: Es gibt immer mehr Daten, die zeigen, dass Schlafstörungen oder Veränderungen im Schlaf das Demenzrisiko erhöhen können. Insbesondere extrem kurze Schlafzeiten (unter sechs Stunden) aber auch zu lange Schlafzeiten (über neun Stunden) sind mit einem erhöhten verbunden, ebenso wie Schlaffragmentierung und chronischer Schlafmangel.
Wir haben retrospektive Untersuchungen an einer großen Kohorte von Patienten in Innsbruck durchgeführt und – im Einklang mit Ergebnissen anderer Forschungsgruppen – festgestellt, dass Patienten mit geringem Tiefschlaf- und REM-Schlaf-Anteil sowie einem erhöhten Anteil an Leichtschlaf und an Wachzeit während der Nacht ein erhöhtes Risiko für die spätere Entwicklung einer Demenz aufweisen. Diese Schlafveränderungen waren in unserer Studie bereits mindestens fünf Jahre vor der Demenzentwicklung sichtbar, und wir verfolgten Patienten als Mittelwert bis zu zwölf Jahre nach. Das sind also sehr frühe Veränderungen.
esanum: Und was folgt daraus?
Dr. Ambra Stefani: Daraus folgt, dass wir diese Risiken früh erkennen und präventiv handeln können. Die internationale Empfehlung lautet, täglich sieben bis neun Stunden zu schlafen und dabei eine regelmäßige Schlaf-Wach-Zeit einzuhalten, also ungefähr zur gleichen Zeit ins Bett zu gehen und aufzustehen. Das Nachholen von Schlaf am Wochenende mag kurzfristig helfen, reduziert aber langfristig nicht das Risiko für andere Erkrankungen.
Die Hoffnung ist, dass wir mithilfe neuer Technologien unseren Schlaf in Zukunft verbessern können. Derzeit gibt es Studien, die untersuchen, wie der Tiefschlafanteil durch akustische Stimulation erhöht werden kann. Dies ist noch im Forschungsbereich, aber es gibt Hoffnung, dass wir zukünftig die Möglichkeit haben werden, nicht nur die Dauer, sondern auch die Qualität unseres Schlafs durch verschiedene Instrumente zu verbessern.
Ergänzend zum Risiko von Demenz und Neurodegeneration möchte ich das sogenannte glymphatische System erwähnen. Dies ist ein relativ neues Konzept: Es handelt sich um ein Abfallentsorgungssystem in unserem Gehirn. Wenn wir aktiv sind – und unser Gehirn ist immer aktiv, auch im Schlaf – werden Abfallprodukte generiert. Bestimmte Proteine können Probleme verursachen, wenn sie im Gehirn verbleiben und sich ablagern. Das ist für die Entsorgung dieser Produkte zuständig und im Schlaf, insbesondere im Tiefschlaf, wesentlich aktiver als im Wachzustand. Dies ist wahrscheinlich ein Mechanismus, der durch guten Schlaf das Risiko für Demenz und andere neurodegenerative Erkrankungen verringern kann.
esanum: Ein weiteres interessantes Stichwort sind die Subtypen der Demenz. Welche stehen hier besonders in Verbindung mit unseren modernen, digitalen Zeiten?
Dr. Ambra Stefani: Es ist schwierig, dies direkt auf unsere aktuelle Gesellschaft zu beziehen. Das glymphatische System scheint relevanter für die Alzheimer-Demenz zu sein als für andere Erkrankungen, spielt aber wahrscheinlich bei allen neurodegenerativen Erkrankungen eine Rolle. Bei der Parkinson-Erkrankung ist oft schon viele Jahre zuvor eine andere Schlafstörung vorhanden: die sogenannte REM-Schlaf-Verhaltensstörung, bei der Patienten im Traumschlaf Bewegungen ausführen und Träume ausagieren können. Wir wissen, dass diese Patienten ein sehr hohes Risiko haben, nach 15 Jahren eine Parkinson-Erkrankung zu entwickeln.
Natürlich gibt es hier mehrere Faktoren. Wie gesagt, es ist schwierig, das direkt mit unserer aktuellen Gesellschaft zu verbinden. Aber die Bildschirmexposition, auch in den Abendstunden, beeinflusst generell unseren Schlaf. Tagsüber sind wir oft drinnen – bei der Arbeit oder in der Schule, und die Exposition zum natürlichen Sonnenlicht wird dadurch geringer. Am Abend hingegen sind wir viel zu viel Licht ausgesetzt, obwohl unser Körper dies nicht benötigt. Dies führt ebenfalls zu einem gestörten Schlaf. Hier könnte die aktuelle Technologie helfen, z.B. indem sie eine Sonnenlichtexposition in Innenräumen simuliert.
esanum: Das geht dann in die Richtung, dass man auch ein bisschen digital detoxen sollte.
Dr. Ambra Stefani: Ja, wobei man sagen muss: Technologien können uns auch unterstützen. Zum Beispiel diese simulierte Sonnenlichtexposition: Es gibt Lampen, deren Lichtintensität sich über den Tag verändert, um das natürliche Sonnenlicht zu simulieren. Auch die Temperatur ist sehr wichtig für den Schlaf. Es gibt Matratzen, bei denen man eine angenehme Temperatur einstellen kann, die sich dann über die Nacht an die Körpertemperatur anpasst. Und wie bereits erwähnt, gibt es auch – noch im Forschungsbereich – Mechanismen zur gezielten Förderung des Tiefschlafs. Die Technologie kann uns also helfen, unseren Schlaf zu verbessern. Man muss jedoch vorsichtig sein: Lichtexposition am Abend, insbesondere Blaulicht von Bildschirmen, stört unsere Melatoninproduktion. Melatonin, ein Schlafhormon, wird von unserem Körper produziert, vor allem wenn das Licht abnimmt. Wenn wir jedoch ständig auf Bildschirme schauen, funktioniert dieser physiologische Prozess nicht optimal.
esanum: Was folgt daraus, dass man auf seinen Schlaf achten sollte?
Dr. Ambra Stefani: Ja, genau. Das ist ein wichtiger Punkt, denn viele denken, guter Schlaf sei zwar wünschenswert, aber eher sekundär. Ich glaube jedoch, dass sich immer mehr Menschen bewusst werden, welche weitreichenden Konsequenzen Schlaf für neurologische, psychiatrische und generell kardiovaskuläre Erkrankungen hat. Viele Menschen achten mittlerweile bewusster auf ihre Bewegung und Ernährung, und ebenso sollte man auch dem Schlaf mehr Aufmerksamkeit widmen.
Dr. Ambra Stefani, Oberärztin und Stv. Leiterin des Zentrums für Schlafmedizin an der Univ. Klinik für Neurologie der Medizinische Universität Innsbruck, hat ihren PhD in klinischer Neurowissenschaft sowie die Facharztausbildung an der Univ.-Klinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck absolviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Schlafmedizin, die Beziehung zwischen Schlaf und Neurodegeneration, REM-Schlaf-Verhaltensstörung und Restless-Legs-Syndrom.