Akademisches Wissen ist groß, muss sich aber auch anwenden lassen

Neue Technologien haben die Hämatologie fast vollständig verändert. Geneditierung und niedermolekulare Wirkstoffe werden ohne größere Verzögerungen für Patienten verfügbar.

Interview mit Prof. Dr. Antonio Almeida

Prof. Antonio Almeida ist bei der European Hematology Association (EHA) Vorsitzender des Curriculum Committee und Leiter der Abteilung Hämatologie am Hospital da Luz Lisboa in Lissabon (Portugal)

esanum: Herr Prof. Almeida, die EHA veranstaltet nicht nur ihren ersten Hybridkongress, sondern feiert auch das 30-jährige Bestehen der Gesellschaft. Was ist das für ein Gefühl?

Prof. Almeida: Aus dieser schwierigen Situation der Pandemie herauszukommen und sich wieder zu treffen, ist sehr aufregend. Wir haben erkannt, wie wichtig die menschliche Kommunikation ist: Gespräche auf den Fluren, Gespräche in den Ecken und wie dies die Wissenschaft und das Wissen wirklich voranbringt. Der zweite spannende Aspekt: wir sehen die Qualität der Arbeiten, die bei der EHA eingereicht werden. Das ist sehr erfreulich, denn es bedeutet, dass wir als Drehscheibe fungieren, als ein Netzwerk, in dem Menschen interagieren und ihr Wissen verbreiten.

esanum: Was sind 2022 die wichtigsten Themen?

Prof. Almeida: Die wichtigsten Themen sind neue Therapien in wissenschaftlichen Arbeiten. Diese befassen sich mit den Fragen, die wir als Ärzte wirklich haben. Pharmazeutische Studien sind natürlich sehr wichtig, um die Zulassung neuer Medikamente zu erreichen. Aber Wissenschaftler und Ärzte wollen auch wissen, wie diese Medikamente anzuwenden sind, bei welchen Patienten sie eingesetzt werden sollen und in welchen Kombinationen. Es ist wichtig, einen Raum zu haben, in dem all diese Fragen beantwortet werden. Das ist wirklich ein Paradigmenwechsel in der Hämatologie und in der Art und Weise, wie wir in unserem täglichen Leben praktizieren und welche Therapien uns zur Verfügung stehen. Daher finde ich es sehr wichtig, dass der Wissensaustausch und die akademischen Studien auf diesem Kongress vorgestellt werden.

esanum: Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis einige der auf dieser Tagung geäußerten Vorschläge in die Praxis umgesetzt werden?

Prof. Almeida: Einige von ihnen können sofort in die Praxis umgesetzt werden. Denn sie betreffen Medikamente, die bereits für bestimmte Indikationen zugelassen sind, nur dass sie auf andere Weise eingesetzt werden. Eine dieser Möglichkeiten ist zum Beispiel die Kombination von zwei zugelassenen Medikamenten für CLL zur Behandlung von Patienten. Eine andere Möglichkeit wäre, zwischen zwei zugelassenen Medikamenten zu wählen und zu entscheiden, welches für welche Patientengruppe bei einer bestimmten hämatologischen Erkrankung besser geeignet ist. Viele Fragen, mit denen wir uns in akademischen Studien befassen, haben also mit der Art und Weise zu tun, wie wir die Medikamente einsetzen, und sie können sofort beantwortet werden. Wir alle müssen uns für unsere Patienten einsetzen und ihnen sowohl neue als auch alte Behandlungen auf neue Weise zugänglich machen.        

esanum: Die Hämatologie ist ein komplexes Gebiet. Welche Rolle spielen neue Technologien, um sie als Ganzes voranzubringen?

Prof. Almeida: Neue Technologien haben die Hämatologie völlig verändert. Nehmen Sie die Klassifizierung von AML als Beispiel: Diese wird sich von einem morphologisch-genetischen Ansatz zu einem eher molekularbiologisch geprägten Ansatz verändern. Ich denke, das Gleiche gilt für die Klassifizierung vieler anderer Krankheiten. Aber hier haben wir gesehen, wie aufregend es ist, Geneditierungs-Therapien oder neue niedermolekulare Wirkstoffe zu haben. In der Hämatologie ist der Weg vom Labor zum Krankenbett also sehr kurz. Das bedeutet, dass neue Therapien den Patienten noch schneller zur Verfügung stehen. 

Quelle: 
Romy Martinez sprach mit Prof. Dr. Antonio Almeida (Präsident elect, EHA) auf der EHA-Jahrestagung 2022 in Wien.