esanum: Ihr Institut für Umweltmedizin und Integrative Gesundheit ist führend in der transdisziplinären Forschung zur Beziehung zwischen Umwelt und Mensch, insbesondere bei allergischen Erkrankungen. Wie unterstützt Ihre Arbeit die Prävention und Behandlung dieser Erkrankungen vor dem Hintergrund des Klimawandels?
Prof. Traidl-Hoffmann: Erst mal dadurch, dass wir die Prävention überhaupt mitdenken. Das ist schon der erste Punkt, denn viele im Gesundheitswesen – was eigentlich eher ein “Krankheitswesen” ist – berücksichtigen das gar nicht. Wir verfolgen im Wesentlichen vier Ansätze: Erstens die Versorgung der Kranken. Wir versuchen, dass Menschen mit Allergien besser gewappnet sind, wenn der durch den Klimawandel verstärkte Pollenflug kommt, indem wir Allergien heilen. Durch spezifische Immuntherapie sorgen wir dafür, dass die Menschen resilienter werden.
Zweitens betreiben wir intensive Forschung, um zu verstehen, was auf die Menschen zukommt und worauf wir uns vorbereiten müssen. Wir kombinieren Laborforschung mit großen Kohortenstudien, in denen wir molekulare Mechanismen der Umwelt-Mensch-Interaktionen analysieren und Risikofaktoren identifizieren.
Drittens betreiben wir Wissenschaftskommunikation und Politikberatung. Ich bin im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen und Sonderbeauftragte des Bayerischen Gesundheitsministeriums für Klimaresilienz und Prävention. Wir versuchen, durch Politikberatung Wege zu schaffen, damit die Patienten gesund durch den Klimawandel kommen.
Der vierte Punkt ist die Schulung – Patientenedukation, aber auch die Fortbildung von Ärztinnen und Ärzten, um das Bewusstsein zu schärfen und die Ausbildung zu verbessern.
esanum: Was sind die spezifischen Umweltveränderungen infolge des Klimawandels, die Sie als Hauptverursacher für die Zunahme von Allergien sehen?
Prof. Traidl-Hoffmann: Es sind hauptsächlich vier Punkte. Erstens eine Verlängerung der Pollenflugsaison – die Pollen fliegen bereits im Januar und weit in den Herbst hinein. Zweitens gibt es mehr Pollen pro Tag, also höhere Konzentrationen. Drittens werden die Pollen selbst aggressiver, weil sie mehr von den Eiweißen produzieren, die bei uns Allergien auslösen. Und viertens haben wir neue Pollenarten durch Pflanzen wie das beifußblättrige Traubenkraut oder das Glaskraut, die massive Allergien und Asthma auslösen können.
Der Klimawandel führt also nicht nur zu einer quantitativen Zunahme von Allergien, sondern auch zu einer qualitativen Verschlechterung, weil die Menschen unter stärkeren Symptomen leiden.
esanum: Was können wir dagegen tun? Welche politischen Maßnahmen sehen Sie als besonders wirksam an, um diesen Auswirkungen des Klimawandels auf allergische Erkrankungen entgegenzuwirken?
Prof. Traidl-Hoffmann: Es ist alles andere als hoffnungslos. Wir haben durchaus Möglichkeiten, Allergien zu heilen. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen mit Allergien eine leitliniengerechte Therapie oder sogar Heilung durch spezifische Immuntherapie erhalten. Allen Patienten, die ich persönlich sehe, kann ich zu 100 Prozent helfen – das müssen alle Ärztinnen und Ärzte in Deutschland leisten können.
Dafür braucht es eine bessere Ausbildung. Es ist absurd, dass die Allergologie aus der Weiterbildung herausgefallen ist. Wenn Sie heute einen Facharzt für Dermatologie machen, sind Sie automatisch auch Allergologe, ohne eine spezifische Ausbildung zu haben. Wie sinnvoll kann so etwas sein?
Wir arbeiten seit vielen Jahren daran, einen nationalen Aktionsplan Allergie zu etablieren, der all diese Aspekte berücksichtigt und eine breite Awareness-Kampagne umfasst. Die Menschen müssen Allergien als das erkennen, was sie sind: die häufigste chronische Erkrankung in Deutschland und Europa, die die Arbeitsfähigkeit massiv einschränkt. Allergien kosten uns in Europa 151 Milliarden Euro pro Jahr.
Darüber hinaus müssen wir sicherstellen, dass wir uns anpassen können und die Welt nicht so weit aus dem Gleichgewicht gerät, dass eine Anpassung unmöglich wird. Wir müssen Abstand halten von Grenzen der Unbeherrschbarkeit.
esanum: Was heißt das konkret?
Prof. Traidl-Hoffmann: Bei den Pollen ist es ein wichtiger Punkt, aber auch bei anderen klimawandelbedingten Veränderungen wie Hitze, Trockenheit oder Überflutungen, die mit Allergien zusammenhängen, etwa durch vermehrtes Schimmelpilzwachstum. Wir wissen, dass Allergiker oder Neurodermitiker bei Hitze deutlich mehr leiden.
Wenn wir ein extremes Wetterereignis nach dem anderen erleben, wird die Situation irgendwann unbeherrschbar. Menschen landen noch drei Tage nach einem Hitzetag mit respiratorischen Erkrankungen im Krankenhaus. Bei einer Hitzeglocke über Deutschland könnten wir Situationen erleben, wie wir sie während COVID hatten – eine Überlastung des Gesundheitssystems.
Der Klimawandel ist zudem grenzenlos. Es gibt Gebiete der Erde, die unbewohnbar werden, was zu Migrationsströmen führen wird, die unser Gesundheitssystem überfordern könnten. Wir müssen eine Dekarbonisierung der Welt erreichen, damit wir uns noch anpassen können. Wenn wir den Klimawandel nicht eindämmen, wird die Erde Ende des Jahrhunderts für uns in vielen Teilen unbewohnbar sein.
esanum: Welche Art der Zusammenarbeit zwischen medizinischen Fachkräften und politischen Entscheidungsträgern halten Sie für notwendig, um den gesundheitlichen Herausforderungen des Klimawandels effektiv zu begegnen?
Prof. Traidl-Hoffmann: Es geht um Kontakt und Dialog. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU) ist ein fantastisches Beispiel dafür, wie dies funktionieren kann – ein Modell auch für andere europäische Länder. Wir erarbeiten interdisziplinär wissenschaftliche Abhandlungen in einer Sprache, die Politiker verstehen, und fungieren als Frühwarnsystem für die Politik.
Diese Publikationen sind frei verfügbar in Englisch und Deutsch auf der WBGU-Webseite. Wir müssen Politikern das Werkzeug an die Hand geben, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Natürlich müssen die Politiker dann auch zuhören – und das klappt mal besser, mal weniger gut.
esanum: Können Sie uns einen Einblick in aktuelle Projekte geben, die an praktikablen Lösungen arbeiten?
Prof. Traidl-Hoffmann: Wir haben die Polldi-App entwickelt, die kürzlich in einer Publikation in Allergy vorgestellt wurde. Diese App ermöglicht es Menschen, in die nächsten Tage zu schauen und eine Pollenvorhersage zu erhalten, die ihnen hilft, zu reagieren. In der ersten placebokontrollierten App-Studie konnten wir zeigen, dass Nutzer der App mit Vorhersagefunktion weniger Symptome und weniger soziale Einschränkungen haben.
Genau das brauchen wir bei klimawandelbedingten Veränderungen: Frühwarnsysteme, die den Menschen die Möglichkeit geben, in die Zukunft zu schauen und sich anzupassen. Wir arbeiten an komplexen Vorhersagemodellen, die nicht nur Pollen, sondern auch Wärme und Schadstoffe einbeziehen, um umfassende Vorhersagen für Patienten zu erstellen.
Ein konkretes Beispiel wäre, wenn Fahrradfahrer in Paris auf einer Karte sehen könnten, welche Route mit den wenigsten Schadstoffen und Pollen verbunden ist. So geben wir den Menschen praktische Anpassungsmöglichkeiten.
esanum: Klimabedingte Gesundheitsprobleme können wir ohne internationale Zusammenarbeit nicht erfolgreich bewältigen. Welche konkreten Schritte sollten Ihrer Meinung nach unverzüglich erfolgen?
Prof. Traidl-Hoffmann: Wir müssen unverzüglich in der Weltgemeinschaft die Dekarbonisierung vorantreiben. Die Energiewende und der Klimaschutz sind im Kern Gesundheitsprojekte. Es geht nicht darum, "den Baum zu retten", sondern den Menschen zu retten und unsere Klimanische zu erhalten.
Das Verbrenner-Aus darf nicht als Schaden für die Wirtschaft gesehen werden. Es bringt nichts, wenn wir weiterhin Verbrenner fahren, wenn wir irgendwann keine Menschen mehr haben, die diese fahren werden. Die Menschen müssen verstehen, dass wir nur noch ein kleines Zeitfenster haben, um zu reagieren – und dieses Fenster schließt sich.
Auch das Gesundheitssystem muss nachhaltiger werden. Es verursacht 5% aller CO₂-Emissionen weltweit. In unserem Labor für Umweltmedizin haben wir als "Green Lab" beispielsweise alle Minus-80-Grad-Kühlschränke auf Minus-70-Grad hochgeschraubt und dadurch 130 Kilowatt pro Stunde eingespart. Wir haben damit internationale Nachhaltigkeitswettbewerbe gewonnen.
Leider gibt es derzeit einen Trend weg von der Nachhaltigkeit, weil viele sagen: "Jetzt haben wir erst einmal Kriege." Aber Nachhaltigkeit darf nicht auf die Wartebank geschoben werden. Es ist auch nicht so, dass Klimawandel nichts mit Sicherheit zu tun hätte – ganz im Gegenteil. Wir arbeiten gerade daran aufzuzeigen, wie die nationale Sicherheit von Klimawandel, Luftverschmutzung und Biodiversitätsverlust abhängig ist.
Prof. Claudia Traidl-Hoffmann ist Direktorin des Instituts für Umweltmedizin und Integrative Gesundheit an der Universität und dem Universitätsklinikum Augsburg sowie Sonderbeauftragte des Bayerischen Gesundheitsministeriums für Klimaresilienz und Prävention. Auf dem EADV Congress 2025 in Paris sprach sie über das Thema “Global warming and allergic diseases: Fostering climate resilience by policy making”.