Im schönsten Beruf der Welt und dennoch nicht glücklich damit

Ärztemangel, Praxissterben und sinkende Versorgungsqualität: Ein Arztbericht zeigt, wie politische Versäumnisse das deutsche Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen und warum junge Mediziner die Niederlassung meiden.

Politische Versäumnisse in der Vergangenheit

Eigentlich ist seit 25 Jahren klar, was bei den Sozialsystemen geschieht. Manche sagen, dass man es sogar seit 50 Jahren sehen kann, was auf uns zukommt. Und man hat nie gegengesteuert und immer nur reagiert. Jetzt stehen wir meines Erachtens mit dem Rücken zur Wand, was die medizinische Versorgung angeht.

Ich erinnere mich noch an den ehemaligen Gesundheitsminister Seehofer, der meinte: So viele Ärzte bräuchten wir gar nicht. Er schickte zwangsweise die Ärzte mit 68 Jahren in die Rente. Nach einem Jahr hat sich dann aber gezeigt: Huch –  jetzt fehlen die ja in der Versorgung. Und prompt wurde diese Regelung wieder zurückgenommen.

Spätestens seit dieser Zeit wissen wir, dass es in der Niederlassung einen gibt. Und es war klar, dass es ganz eng wird, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Von Seiten der Politik hat man sich nicht darum gekümmert, woher a) der Nachwuchs kommen soll, wenn b) die Doktors nicht mehr wie früher bis 70 oder 75 in ihrer Praxis stehen wollen.

Jetzt haben wir ein doppeltes Problem: Genug wurde nicht ausgebildet. Und mit der Verweiblichung der Medizin zeigt sich, dass die Jüngeren nicht unbedingt eine Praxis übernehmen wollen – sie möchten Familie und Beruf unter einen Hut bekommen. Sie gehen daher eher in die Anstellung. Das heißt 38,5 Stunden die Woche. Und nicht wie einst in Selbstausbeutung üblich 50 bis 60 Stunden. Ergebnis: Wir haben zwar genug Arztköpfe, sogar etwas mehr als früher, aber nicht mehr genug Arztstunden.

Hausärztemangel und seine Auswirkungen auf die Versorgungsqualität

Das bekommt jeder im Land zu spüren. Was mir auch von Patienten berichtet wird: Im MVZ sitzen sie jedesmal vor einem anderen Arzt. Das fühlt sich nicht gut an. 

Der Hausärztemangel ist ja inzwischen in aller Munde. In der erlebe ich, dass mir Blutwerte zur Besprechung gebracht werden, die der Hausarzt veranlasst hat. Die Betreuung und die Führung des Patienten wird aber weitergegeben, weil die Zeit fehlt. Das ist reine Notwehr! Ich mache da niemandem einen Vorwurf. Ich erlebe auch Patienten, die seit Jahren vom Hausarzt nicht mehr abgehört und untersucht wurden, was bei uns einmal im Jahr zur Routine gehört.

Wenn Hausärzte immer mehr Patienten managen sollen, geht unweigerlich die Behandlungstiefe verloren. Das sind zwei Seiten derselben Medaille: Die Ärzte sind überfordert, das führt zu einer latenten Unzufriedenheit bei ihnen – weil man immer in Konflikt ist, ob man wirklich alles Notwendige getan hat. Wie gesagt, die Betreuungstiefe geht verloren. Das merken die Patienten auch. Da schließt sich dann der Kreis. Wenn ich merke, dass ich das Ohr nicht finde, was ich brauche, dann suche ich vielleicht noch ein paar mehr Ohren – sprich: ich gehe von Arzt zu Arzt, suche Zweitmeinungen, schlage in der Notaufnahme, beim Bereitschaftsdienst  auf. Das alles macht die Wartezimmer noch voller und die Wartezeiten länger. Irgendwann muss man diesen gordischen Knoten zerschlagen – nein, man hätte ihn längst  zerschlagen müssen!

Ob das jetzt noch gelingt, ist die Frage.

Ich sehe nicht mehr dunkelgrau, sondern richtig schwarz. Ich erlebe auch viele pessimistische Kollegen. Aber nicht nur wir Ärzte haben große Sorgen. Wenn ich mich mit Apothekern unterhalte, ist es dort genauso. Sie erhalten einen zu niedrigen Zuschlag für ihren Notdienst. Sie müssen Medikamente heranholen, die momentan schwer zu beschaffen sind. Wenn sie die verschriebenen Medikamente nicht haben, müssen sie telefonieren – mit uns in den Praxen, mit Großhändlern – und trotzdem gelingt es manchmal nicht, die Medikamente für den Patienten zu besorgen. Dazu dann auch noch die Probleme mit der Telematikinfrastruktur, die immer wieder ausfällt. Aus diesen Gründen haben wir ein Apothekensterben, wie wir auch ein Praxissterben haben. Da steigen dann Versandapotheken und Großkonzerne ein. 

Die Probleme sind bei allen medizinischen Bereichen sehr ähnlich gelagert. Ob bei Zahnärzten, Orthopäden, Urologen. Und bei Hausärzten, besonders im ländlichen Bereich, sieht es auch nicht gut aus. 

Alarmstufe Rot: Versorgungslage im Gesundheitswesen

Wie man es auch dreht und wendet: Wir erleben eine immer schlechter werdende Versorgungslage im . Gleichzeitig sehe ich steigende Ansprüche der Patienten. Und ich bemühe mich natürlich, jedem, der kommt, individuell gerecht zu werden. Ich habe Patienten, die ich sehr lange kenne, mitsamt der ganzen Familiengeschichte.  Das Bundesgesundheitsministerium veröffentlicht jährlich die Übersicht über die Finanzausgaben der gesetzlichen Krankenkassen. Bei den Niedergelassenen kommen derzeit noch ganze 16 Prozent der Ausgaben an. Aber wir bearbeiten ungefähr 90 Prozent der Fälle. Viel Geld landet in Bereichen, die nichts mit Gesundheit zu tun haben, wie beispielsweise Digitalisierung, versicherungsfremde Leistungen, Verwaltungskosten in den Krankenkassen. Es besteht ein massives Missverhältnis zwischen der geleisteten Arbeit und der Honorierung der Leistung. Das führt dazu, dass junge Kollegen sagen: Das tue ich mir nicht an. Diese finanzielle Verantwortung möchte ich mir nicht ans Bein binden.

Früher hat man sich niedergelassen und gedacht: Damit kann ich meinen Lebensunterhalt verdienen, meine Familie gut versorgen, mein Bedürfnis nach selbstbestimmter Arbeit befriedigen – das scheint mehr oder weniger unter die Räder gekommen zu sein.

In den zurückliegenden 25 Jahren ist meine finanzielle Situation im besten Falle gleich geblieben. Aber bei steigenden Personalkosten, Mieten, Kosten für Wartung und Reparatur der Geräte muss ich auf jeden Fall härter arbeiten und mehr aufs Geld schauen als früher. Da sind zum Beispiel Investitionen für neue Geräte kaum noch drin. Die Kassenärztliche Vereinigung spricht von einem Investitionsstau in vielen Praxen. 

25. Praxisjubiläum: Wenig Gründe zu feiern

Inklusive Teilzeitkräfte habe ich acht Mitarbeiterinnen, die mit mir zusammen versuchen, die Patienten so gut zu versorgen, wie ich mir das vorstelle. Immer öfter muss ich an meine Großmutter denken. Sie hat oft gesagt: Hättste mal was Gescheites gelernt. Dabei ist mein Beruf einer der schönsten! Ich begehe dieses Jahr das 25. Praxisjubiläum. Aber wirklich feierlich ist mir nicht zumute. Ich muss sagen, dass die Politik mit ihren Maßnahmen der letzten Jahre alles eher verschlimmbessert hat. Es wurden ungewollt viele Fäden zu einem Seil geflochten, welches jetzt unseren wunderbaren Beruf stranguliert. Ich kenne ältere Kollegen, die sagen, ich mache mich nicht länger kaputt. Unter den Umständen höre ich bald auf. Man hat ihnen die Motivation gestohlen. Es droht ein kollektiver Burn-out. 

Obwohl es mir persönlich als Diabetologin in Bayern wirtschaftlich noch relativ gut geht, besorgt und bedrückt mich diese Gesamtsituation. 

Wer ist Dr. med. Ilka Martina Enger?

Dr. med. Ilka Martina Enger ist Internistin und führt eine diabetologische Schwerpunktpraxis in Neutraubling im Oberpfälzer Landkreis Regensburg in Bayern.