esanum: Frau Prof. Hummel, die Ernährung in der frühen Schwangerschaft prägt die spätere Gesundheit des Kindes. Welche Aspekte sind besonders wichtig?
Prof. Dr. Sandra Hummel: Das ist eine spannende Frage. In der Frühschwangerschaft ist vor allem eine ausreichende Versorgung mit wichtigen Mikronährstoffen, wie zum Beispiel Folat und Jod, wichtig. Nehmen wir aber zum Beispiel den , der in der Regel im letzten Trimester auftritt. Er führt zu erhöhten Blutzuckerwerten und kann die Gesundheit des Kindes langfristig beeinträchtigen. Das zeigt, dass auch das letzte Trimester eine wichtige Rolle spielt, im Grunde ist es also die gesamte Schwangerschaft, die zählt.
Was wir wissen, ist, dass eine exzessive Gewichtszunahme während der Schwangerschaft schlecht ist. Wenn Frauen mehr zunehmen, als empfohlen wird – basierend auf ihrem BMI zu Beginn der Schwangerschaft gibt es hier klare Empfehlungen – sprechen wir von einer exzessiven Gewichtszunahme. Es ist gut belegt, dass dies dazu führt, dass Kinder häufiger übergewichtig werden und im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter Typ-2-Diabetes entwickeln. Das betrifft die gesamte Schwangerschaft, nicht nur die Frühschwangerschaft. Der gesamte Zeitraum zählt zu den "ersten tausend Tagen", die so entscheidend für die Prägung der Gesundheit sind – beginnend ab der Empfängnis.
esanum: Also ist der wichtigste Parameter die Gewichtszunahme der Schwangeren?
Prof. Dr. Sandra Hummel: Ja, das stimmt, wenn wir über das Problem der Überernährung sprechen. Es geht aber in beide Richtungen. Wir haben auch Erkenntnisse aus dem sogenannten „Hungerwinter“ in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort gab es eine klare Unterernährung bei Frauen, die während dieser Zeit schwanger waren. Registerdatenbanken konnten zeigen, dass Personen, die im Erwachsenenalter Typ-2-Diabetes entwickelten, häufiger während dieses Hungerwinters im Mutterleib waren.
In Deutschland haben wir heute viel mehr das Problem der Überernährung. Eine hohe Kalorienzufuhr führt zu exzessiver Gewichtszunahme. Das wiederum resultiert oft in Kindern mit einem sehr hohen Geburtsgewicht – wir nennen das "makrosom" oder "LGA" (Large for Gestational Age). Diese Kinder sind für ihre Schwangerschaftsdauer zu schwer. Es ist bekannt, dass dies langfristig die Gesundheit beeinträchtigt. Kinder, die so schwer zur Welt kommen, haben häufiger Übergewicht im Kindesalter, was sich bis ins Erwachsenenalter ziehen kann.
esanum: Sie sprechen vom Hungerwinter und beziehen sich auf die Nachkriegszeit. Was können wir aus der britischen Nachkriegszeit lernen?
Prof. Dr. Sandra Hummel: Ich fand diese Studie super spannend. Sie ist hervorragend gemacht und bietet eine einzigartige Gelegenheit. Man hat in Großbritannien untersucht, welche Personen, die heute erwachsen sind, während der Zuckerrationierung im Mutterleib waren oder ihre ersten Lebensmonate bis zum 18. Lebensmonat durchliefen. Es sollte herausgefunden werden, ob diese Personen später häufiger an Krankheiten wie oder Bluthochdruck leiden.
Das Ergebnis war frappierend: Die Zuckerrationierung war mit einem deutlich geringeren Risiko assoziiert. Wer in dieser Zeit im Bauch der Mutter war und bis über den 6. Lebensmonat hinaus zuckerrationiert war, hatte 35 % weniger Typ-2-Diabetes und 20 % weniger . Das Geniale an dieser Studie ist, dass vor allem der Zucker rationiert war und nach dem Ende der Rationierung extrem schnell wieder verfügbar war. Die Menschen nahmen dann plötzlich das Doppelte an Zucker auf. Das ermöglichte eine tolle Kontrollgruppe: Personen, die direkt nach der Rationierung gezeugt wurden und ihre ersten Lebensmonate verbrachten.
Da hauptsächlich Zucker und nicht Fett oder Eiweiß im gleichen Maße rationiert war und der Anstieg nach der Rationierung nur beim Zucker zu verzeichnen war, konnte der Effekt auf dieses isolierte Nahrungsmittel zurückgeführt werden. Das ist sonst nur in großen, randomisierten Studien möglich, die extrem aufwendig sind und bei denen die Compliance der Teilnehmer oft ein Problem darstellt. Hier war es relativ eindeutig, dass kein Zucker vorhanden war und verzehrt werden konnte, so dass die Gesundheitseffekte auf den Zuckerkonsum zurückzuführen waren, was ein wirklich tolles Ergebnis ist und hohe Wellen geschlagen hat.
esanum: Wie alt ist die Studie?
Prof. Dr. Sandra Hummel: Sie wurde letztes Jahr publiziert. Die untersuchten Personen waren damals, als die Daten erhoben wurden, zwischen 51 und 66 Jahre alt. Es ging also wirklich um den Einfluss dieser Zuckerrationierung im Mutterleib und während der ersten Lebensmonate auf Typ-2-Diabetes, Übergewicht und Hypertonie im Erwachsenenalter.
esanum: Was können wir daraus lernen? Zucker rationieren?
Prof. Dr. Sandra Hummel: Absolut! Am besten ist es wirklich, den Zucker einzuschränken. Nicht komplett darauf verzichten, das hält niemand durch und ist unrealistisch, aber wirklich eingrenzen – in der Schwangerschaft, im Kleinkindalter und im Endeffekt für alle Menschen. Was das Tolle ist: Wir haben einen guten Vergleich zu unseren heutigen Verhältnissen. Die Zuckerrationierung beträgt 40 Gramm Zucker pro Tag während der Schwangerschaft. Das entspricht in etwa dem, was die WHO und die deutschen Fachgesellschaften empfehlen: maximal 10 % der täglichen Energiezufuhr in Form von Zucker. Weniger ist immer besser. Das Hochschnellen der Zuckerzufuhr nach der Rationierung auf 80 Gramm entspricht dem durchschnittlichen Wert, den wir in Deutschland heute als Erwachsene zu uns nehmen. Man kann hier die Ist- und Soll-Situation gut vergleichen. Die Ergebnisse zeigen ganz klar, dass während der Schwangerschaft und im Kleinkindalter Zucker ein Problem ist.
Es geht vor allem um den zugesetzten Zucker. Er steckt in Ketchup, Keksen, Süßigkeiten – man weiß oft gar nicht, wie viel Zucker sich überall versteckt. Es geht um den zugesetzten weißen Zucker, der in unglaublich vielen Fertigprodukten vorkommt. Der Zucker aus Obst, den wir natürlicherweise verzehren, zählt nicht dazu. Obst sollte man natürlich täglich essen. Auch der Milchzucker aus Joghurt oder Milch gehört nicht dazu. Fertigprodukte insgesamt werden ja oft als ungesund bewertet, nicht nur wegen des Zuckergehalts, sondern auch wegen zu viel Salz und Fett. Im Jahr 2019 hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, eine Strategie zur Reduzierung von Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten zu entwickeln. Mehr als 100 Experten aus Wissenschaft, Fachverbänden und der Lebensmittelwirtschaft arbeiteten an einem großen Papier zu Reduktionszielen für Zucker, Fette und Salz für wichtige Lebensmittel, wie zum Beispiel Softdrinks, und wie diese Ziele erreicht werden können.. Es ging darum, wissenschaftlich zu erarbeiten, was schädlich ist und unsere metabolischen Erkrankungen befeuert.
esanum: Man hat jetzt immerhin bezüglich des Zuckers ganz klare Werte vorliegen, weil er in der Nachkriegszeit so deutlich reduziert war!
Prof. Dr. Sandra Hummel: Ja, genau. Diese spezielle Studie hat wirklich den Zucker als Lebensmittel ausgemacht, der langfristig einen schädlichen Einfluss hat. Die genauen Mechanismen im ungeborenen Kind sind noch etwas unklar. Was wir aber gesehen haben, auch mit unseren eigenen Daten, ist, dass eine ungünstige Ernährung während der Schwangerschaft zu epigenetischen Veränderungen beim Neugeborenen führen kann. Diese wiederum können zu Veränderungen in der Aktivität von Genen führen. Wir müssen noch weiter erforschen, welche Gene das genau sind, ob sie stoffwechselrelevant sind und ob sie direkt zum späteren Übergewicht oder Typ-2-Diabetes führen. Epigenetische Veränderungen sind zum Teil reversibel, das heißt, dass andere Verhaltensweisen, Ernährung und Umweltfaktoren diese Veränderungen mitunter auch wieder rückgängig machen oder in eine andere Richtung verändern können. Welche Faktoren hier im Kindesalter wichtig sind, muss noch weiter erforscht werden.
esanum: Gibt es dezidierte Ernährungsempfehlungen für Schwangere? Bekommt jede Schwangere diese Beratung?
Prof. Dr. Sandra Hummel: Es gibt dezidiert Ernährungsempfehlungen für Schwangere, zum Beispiel durch das Netzwerk , aber nicht jede Schwangere erhält eine ausführliche individuelle Beratung. Das erfordert eine recht große Eigeninitiative der Frauen. Frauen mit Gestationsdiabetes bekommen diese im Rahmen ihrer Therapie nach der Diagnose, also im letzten Trimester. Dort ist die Ernährungsberatung eine wichtige Säule der Behandlung, und es wird auch auf die Gewichtszunahme geschaut. Ich habe Kurven von niedergelassenen Ärzten gesehen, die zeigen, wie die Gewichtszunahme bei Frauen mit Gestationsdiabetes zu Beginn der Schwangerschaft deutlich über dem Soll liegt, und nach der Beratung pendelt sie sich in der Norm ein. Wenn man die Frauen gut aufklärt und motiviert, kann man viel erreichen. Ideal wäre es, schon anzusetzen, bevor die Frau schwanger wird!
Ein weiteres spannendes Ergebnis, das von unseren Kollegen am Helmholtz-Zentrum erst kürzlich veröffentlicht wurde: Auch der Ernährungszustand des Vaters zum Zeitpunkt der Empfängnis ist von großer Bedeutung. Wenn der Vater übergewichtig ist, führt allein diese Tatsache zu epigenetischen Veränderungen der Spermien. Dies scheint dafür verantwortlich zu sein, dass die Kinder von übergewichtigen Vätern später ein größeres Risiko für Übergewicht und Typ-2-Diabetes haben. Das wurde im Tiermodell und auch an humanen Kohorten bestätigt. Das ist noch relativ neu und wirklich bedeutsam, dass auch Väter zum Zeitpunkt der Zeugung einen Einfluss auf die spätere Gesundheit des Kindes haben. Junge Männer für Lebensstiländerungen zu erreichen, ist eine weitere Herausforderung.
esanum: Das Wissen darüber, dass junge Eltern oder Menschen, die Eltern werden wollen, auf sich achten sollten und dass sie Probleme weitergeben können, ist sicher noch nicht verbreitet.
Prof. Dr. Sandra Hummel: Deswegen ist es gut, dass das Thema jetzt aufgenommen wurde. (DANK) arbeitet seit Jahren an der Aufklärung und ist nah an der Politik dran, stellt Forderungen und hat Positionspapiere dazu geschrieben. Sie haben klare Positionen zur Prävention formuliert, die umsetzbar wären. Ich denke, man muss das Thema noch mehr über die Medien publik machen, denn es ist sehr bedauerlich, dass im Koalitionsvertrag der neuen Regierung das Thema Prävention und Diabetes zu kurz kommt. Das ist ein bitterer Rückschritt. Die alte Regierung hatte versucht, Industrie und Wissenschaft zusammenzubringen, zum Beispiel über die Nationale Reduktionsstrategie für Zucker, Fette und Salz. Der Abschlussbericht liegt nun vor, aber es bleibt unklar, welche Handlungen daraus abgeleitet werden sollen. Dabei hätten wir wirklich Chancen, etwas zu bewirken, wenn wir Maßnahmen ergreifen würden, um die Ernährung in diesem frühen Lebensabschnitt zu verbessern.
esanum: Es bleibt viel zu tun.
Prof. Dr. Sandra Hummel: Mir ist es jedoch auch wichtig, aufzuzeigen: Selbst wenn es in der Schwangerschaft nicht so rund läuft und das Kind zum Beispiel mit einem erhöhten Geburtsgewicht zur Welt kommt, zeigen Studien: es gibt auch nach der Geburt noch Zeitfenster, in denen wir durch einen gesunden Lebensstil langfristig etwas erreichen können. Eine dänische Studie hat gezeigt, dass durch körperliche Bewegung, aber auch durch den geringen Konsum von zuckergesüßten Getränken im Grundschulalter die Kinder gut ihr Normgewicht erreichen können. Wenn wir es dadurch schaffen, dass das Kind bis zum 13. Lebensjahr normgewichtig wird, ist das sehr gut. Auch hier zeigt eine Studie aus Dänemark, dass diese Kinder später seltener Typ-2-Diabetes bekommen, auch wenn es in der Schwangerschaft nicht wahnsinnig gut lief. Es gibt immer nochmal ein Zeitfenster, wo man etwas tun kann.
Prof. Dr. oec. troph. Sandra Hummel ist leitende Wissenschaftlerin des Forschungsbereichs: Lebensstil, Adipositas und epigenetische Programmierung bei Typ 1 und Gestationsdiabetes am Institut für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH).