Spezifische Patientenmerkmale und Ethnizität in der Gastroenterologie

Eine Arbeit der Universitäten Pennsylvania und Los Angeles beschäftigt sich mit ethnischen Zusammenfassungen in US-amerikanischen Leitlinien. Welche Empfehlungen ergeben sich aus fachlicher Perspektive?

Medizinische Begriffe müssen angepasst werden

Spätestens die “Black lives matter”-Bewegung hat viele Mediziner in Bezug auf den Umgang mit Begriffen wie “Rasse” und “Ethnizität” sensibilisiert und dazu geführt, dass die in diesen Begriffen angelegten Verallgemeinerungen auch aus fachlicher Perspektive kritisch hinterfragt werden. In einer aktuellen Arbeit in “Gastroenterology” widmen sich Shazia Mehmood Siddique von der University of Pennsylvania und Folasade P. May von der University of California Los Angeles der Verwendung von ethnischen Zusammenfassungen in aktuellen US-amerikanischen Leitlinien. Sie raten, die überholten Begriffe durch präzisere medizinische Begriffe zu ersetzen, welche nicht unangemessen verallgemeinern und dem individuellen Patienten gerechter werden.1

Der Begriff der “Ethnizität“ ist medizinisch ungenau

Die beiden Autorinnen halten in ihrem Artikel zunächst fest, dass die Begriffe “Race” (Rasse) und „Ethnicity“ (Ethnizität) soziale Konstrukte sind, deren biologische Basis sehr begrenzt sei. Dazu führen sie eine aktuelle Stellungnahme der US-amerikanischen Fachgesellschaft für Humangenetik bzw. einen neuen Fachartikel an, die diese Einschätzung belegen.2,3 Man mag das angesichts des inzwischen fortgeschrittenen Alters dieser grundlegenden Erkenntnisse für überraschend halten. Doch der Umstand verweist vor allem auf die heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen die sich gerade in den USA um die Themen “Rasse“, “Diskriminierung“ und “Identität“ abspielen.

Wer den Artikel liest, stößt zudem bald auf Aspekte, die auch für Deutschland und Europa große medizinische Bedeutung haben. Ähnlich wie in den USA gibt es hier große Gruppen von zugewanderten Menschen, die häufig nicht nur in den Medien unter Oberbegriffen wie “Türken“, “Araber“, “Afghanen“ etc. subsumiert werden. Übersehen werden dabei gerne drei Aspekte:

  1. die Diversität innerhalb der jeweils genannten Gruppen, die lediglich in der ignoranten Außenperspektive als homogen wahrgenommen werden können;
  2. die konkrete Art der Lebensführung, die sich u. a. zwischen neu zugewanderten und seit langem in den USA oder Europa lebenden Angehörigen derselben „Ethnie“ massiv unterscheiden können und
  3. die Durchmischung von Angehörigen verschiedener „Ethnien“ die in den USA ebenso wie in Europa längst faktische Realität ist. Zuordnungen von Krankheiten oder erhöhten Erkrankungsrisiken zu ethnischen Gruppen würden dadurch noch gewagter, als sie es ohnehin schon waren.

Siddique und May gehen in ihrem Artikel im Folgenden auf sieben verschiedene US-amerikanische gastroenterologische Leitlinien ein, die in acht Fällen Empfehlungen aufgrund der Ethnizität der Patienten aussprechen. Wie die Autorinnen nachweisen, verkürzen die Guidelines die “ethnische“ Grundlage ihrer Empfehlungen dabei so stark, dass diese Empfehlungen im Grunde unhaltbar werden.

Dabei beschränken sich die Autorinnen konsequent auf den medizinischen Gehalt der Leitlinien und treten keineswegs als Ankläger etwa gegenüber rassistischen Tendenzen auf. Sie verweisen hartnäckig und wiederholt darauf, dass die Zusammenfassung von Patientengruppen auf Grundlage ihrer angenommenen ethnischen Zugehörigkeit ungenau, fehlerhaft und irreführend ist. So fasse etwa eine Leitlinie zum Screening auf das hepatozelluläre Karzinom (HCC) bei HBV-Infizierten männliche Asiaten und Schwarze ab vierzig mit Asiatinnen ab 50 zu einer Einheit zusammen, die alle sechs Monate gescreent werden sollte.4 Faktoren wie die Chronizität der Erkrankung, der Weg der Ansteckung, der Migrationsstatus, Virämie-Status und die Prävalenz der HBV im Herkunftsland spielten hingegen keine Rolle. Ähnliche Beispiele führen sie auch für Leitlinien zu Helicobacter pylori-Infektionen, intestinalen Metaplasien des Magens und Barrett-Ösophagus an.

Genaue medizinische Charakterisierung schützt vor Fehlern

Die Autorinnen betonen immer wieder, dass die Ethnizität ein zu vielfältiger, volatiler und unbestimmter Faktor sei, als dass auf ihm medizinische Entscheidungen beruhen sollten. Sie fordern die Leitlinien-publizierenden Fachgesellschaften auf, ihre Empfehlungen entsprechend zu überarbeiten und vor allem zu präzisieren. Sehr häufig können sogenannte ethnische Risiken inzwischen etwa mit der statistischen Häufung oder dem statistisch verbreiteten Fehlen von Enzymen und ähnlichen biochemischen Einflussgrößen erklärt werden. Diese als Kriterien beispielsweise für eine erhöhte Screening-Frequenz zu nutzen, sei nicht nur medizinisch ein Fortschritt, sondern verhindere auch Ausgrenzung und Diskriminierung in Zeiten zunehmender ethnischer Durchmischung. Eine solche Anpassung der Empfehlungen sei ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine individualisierte Präzisionsmedizin.

Das ist eine Schlussfolgerung, die für das durch Migration sich ebenfalls zügig und fortgesetzt diversifizierende Europa in einer globalen Welt in gleichem Maße angezeigt sein sollte wie für die USA.

Referenzen:
1. Siddique SM, May FP. Race-Based Clinical Recommendations in Gastroenterology. Gastroenterology 2022; 162: 408–414.

2. The American Society of Human Genetics. ASHG denounces attempts to link genetics and racial supremacy. Am J Hum Genet 2018; 103: 636.  
3. Borrell LN et al. Race and genetic ancestry in medicine – a time for reckoning with racism. N Engl J Med 2021; 384: 474–480.
4. Terrault NA et al. Update on prevention, diagnosis, and treatment of chronic hepatitis B: AASLD 2018 Hepatitis B Guidance. Hepatology 2018; 67: 1560–1599.