COVID-19: Was haben wir für zukünftige Pandemien gelernt?

Die COVID-19-Pandemie hat aufgezeigt, wie schnell wissenschaftliche Fortschritte erzielt werden können, aber auch, wie unvorbereitet die Welt auf eine derartige Situation zugesteuert ist. Konnten wir daraus unsere Lehren ziehen? Dieser Frage wurde beim Tagesspiegel Future Medicine Round Table 2021 nachgegangen.

Bessere Vorbereitung ist dringend erforderlich

Seit fast zwei Jahren stellt die COVID-19-Pandemie weltweit eine der größten gesundheitlichen Herausforderungen dar und hat gezeigt, wie schnell wissenschaftliche Fortschritte erzielt werden können, aber auch, wie unvorbereitet die Welt auf eine derartige Situation zugesteuert ist. Konnten wir daraus unsere Lehren ziehen? Dieser Frage gingen beim Tagesspiegel Future Medicine Round Table 2021 unter anderem Prof. Dr. Christopher Baum, Dr. Michael May, Prof. Christof von Kalle, Prof. Veronika von Messling und Prof. Leif Erik Sander nach. esanum war als Netzwerkpartner mit dabei.

Düstere Ausblicke für die Zukunft gibt Prof. Dr. Christopher Baum, Vorsitzender des BIH Direktoriums und Vorstand für Translationsforschung der Charité – Universitätsmedizin, direkt zu Beginn der Veranstaltung in seiner Einführungsrede: Die Welt ist für kommende Pandemien vermutlich nicht ausreichend vorbereitet. Aufgrund der bisher gesammelten Erfahrungen sei man heute zwar besser aufgestellt als noch vor zwei Jahren, aber man müsse auf Basis der aktuellen Situation aktiv immer weiter lernen und (proaktiv) bessere Vorbereitungen treffen. Die nächste Pandemie, so Baum, sei zudem die nächste Coronawelle. Die Forschung in den vergangenen zwei Jahren habe zwar aufgezeigt, wie schnell unter den gegebenen Umständen Fortschritte erzielt werden können – etwa in der Form von Impfstoffen – an diesen müsse aber auch immer weiter gefeilt werden. 

Auf wissenschaftliche Fortschritte durch Teamwork und Konsequenzen des unvorbereitet Seins in der COVID-19-Pandemie geht Dr. Michael May, Vice President & Medical Director Germany of Bristol Myers Squibb, in seinem Impulsvortrag genauer ein. In einem 1. Key Statement gibt May zu verstehen, dass das Überwinden der COVID-19-Pandemie nur durch gemeinsame Anstrengungen zu erzielen sei. Hier habe die Forschung in Verbindung mit der Pharmakologie in kürzester Zeit Impfstoffe und Medikamente herstellen können,weitere klinische Studien seien auf dem Weg. Zudem sei die Medikamenten-Versorgungskette in der Pandemiezeit nicht unterbrochen worden.
Dennoch, betont May in seinem 2. Key Statement, habe es in der Pandemie viele "stille Opfer" gegeben, vor allem schwerkranke Patient:innen mit Krebs oder kardiovaskulären Erkrankungen. Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus und der Lockdown haben dazu geführt, dass viele Screenings oder medizinische Behandlungen ausgefallen seien oder verschoben wurden. Zudem, so May, habe es 2020 20 Prozent weniger Untersuchungen auf Hautkrebs gegeben und sogar 50 Prozent weniger Hospitalisierungen aufgrund von kardiovaskulären Erkrankungen. Zudem bedauert der Referent, dass durch die Umstände die Forschung an vielen neuen medikamentösen Ansätzen eingestellt wurde. So habe es etwa 60-70 Prozent weniger gesponserte Studien gegeben.
In seinem 3. Key Statement geht May auf die dringende Notwendigkeit ein, dass sowohl in der COVID-19-Pandemie als auch in kommenden möglichen Pandemien alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Wie könnten Daten besser verfügbar gemacht und nachhaltiger genutzt werden? Hierauf gebe es noch keine ultimative Antwort. Wichtig sei eine systematische Verknüpfung aller verfügbaren Patientendaten. Nur durch Teamwork, betont May, könne medizinischer Fortschritt gewährleistet werden.

Mit Viren lässt sich nicht verhandeln

Den hohen Wert gemeinsamen Strebens auf dem Weg zu den COVID-19-Impfstoffen betonen auch die Referierenden in der Diskussionsrunde. Prof. Christof von Kalle, Leiter des Klinischen Studienzentrums von BIH und Charité, lobt die schnellen Fortschritte, die man durch Zusammenarbeit erzielen konnte. Was in der Vergangenheit Jahre der Forschung in Anspruch genommen hat, konnte in der COVID-19-Pandemie binnen weniger Monate bewerkstelligt werden. Man müsse dringend auf diese Art und Weise weiterarbeiten und den Austausch von Daten und Informationen gewährleisten, andernfalls werde es weitere Pandemien geben, betont Prof. Veronika von Messling, Leiterin der Abteilung Lebenswissenschaften im Bundesministerium für Bildung und Forschung. 

Dem stimmt auch Prof. Leif Erik Sander, Professor für Immunologie von Infektionskrankheiten und Vakzinologie an der Charité - Universitätsmedizin Berlin, zu: Besonders in Deutschland sei man in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Datenschutz richtigerweise ein hohes und wichtiges Gut darstelle. Hinsichtlich COVID-19 habe ein sehr schwieriger Zugang zu Daten aber auch zu einigen Hindernissen im wissenschaftlichen Fortschritt beigetragen. Hier, so Sander, könne man dankbar für Daten aus Israel und anderen Ländern sein, in denen der wissenschaftliche Zugriff auf medizinische Daten liberaler gehandhabt werde. Hier fügt auch von Messling hinzu: Datenschutz sei wichtig, mit Viren – sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft – könne aber nicht verhandelt werden.

Nicht vergessen: Großteil der Bevölkerung hat Seite der Wissenschaft gewählt

Fatal wäre, so Prof. von Kalle, sich jetzt auf den Lorbeeren auszuruhen und zu alten Verhaltensmustern in Forschung und Verhalten zurückzukehren. Grundsätzlich neige die Menschheit dazu, nicht weit in die Zukunft zu denken und sich nur auf das Notwendigste vorzubereiten. So sieht das auch Prof. Sander: Die Wissenschaft habe viele Werkzeuge geliefert, die auch in zukünftigen Krisensituationen genutzt werden können – etwa Impfstoffe, die sich leicht anpassen lassen – es liege aber auch in der Verantwortung von Politik und der Gesellschaft, den entsprechenden Rahmen zu schaffen, um diese nutzen zu können. Dazu sei es dringend notwendig, dass etwa die Debatte über den Zugang zu medizinischen Daten weniger im öffentlichen Raum stattfinde – vor allem in sozialen Medien, wo noch immer viele Falschinformationen verbreitet werden. Stattdessen müsse sichergestellt werden, dass der Fokus auf wissenschaftliche Fakten gerichtet werde. 

Dabei sei es von größter Wichtigkeit, hebt von Messling hervor, die Bevölkerung beim Voranschreiten der Wissenschaft "mitzunehmen" und verständlich zu erläutern, welche Maßnahmen aus welchem Grund ergriffen werden müssen. Man dürfe nicht müde werden, Informationen darüber zu verbreiten, wie wissenschaftliches Arbeiten funktioniert, dann könne man sich gemeinschaftlich auch gezielt auf zukünftige Notsituationen besser vorbereiten. Prof. von Kalle zeigt sich hierbei optimistisch: Die medizinische und wissenschaftliche Forschung müsse manchmal einfach etwas mutiger sein und sollte dabei immer im Hinterkopf behalten, dass ein Großteil der Bevölkerung auch politisch für die Seite der Wissenschaft gewählt habe.

Quelle: Tagesspiegel Future Medicine Round Table 2021; 04.11.2021