Elektronische Patientenakte: Eine Traumwelt für die Öffentlichkeit

Eine Ärztin verweigert die Nutzung der elektronischen Patientenakte und erklärt, warum das viel gepriesene System mehr Risiken als Vorteile birgt – und welche Daten möglicherweise ohne Wissen der Patienten gespeichert werden.

Von Opt-in zu Opt-out: Wie die ePA für fast alle Realität wurde

Ich befülle für meine Patienten die ePAs grundsätzlich nicht. Sie bekommen selbstverständlich sämtliche Befunde und können damit machen, was sie wollen, aber ich werde nichts hochladen. Denn ich sehe mehr Nachteile als Vorteile durch die ePA. Ich habe ein entsprechendes Faltblatt ins Wartezimmer gelegt und habe mir die Zeit genommen, das meinen Patienten zu erklären, wenn sie Fragen dazu hatten. Etwa 10 Prozent hatten Fragen. Ein großer Teil des Rests weiß nichts von der oder sie nutzen sie nicht.

Es gibt diese ePA ja seit 2023. Jeder Patient durfte sich damals von der Krankenkasse eine ePA einrichten lassen. Das war die sogenannte Opt-in-Lösung. Es zeigte sich: ein bis zwei Prozent der Menschen wollten eine ePA für sich. Daraufhin hat sich die Ampel-Regierung überlegt, dann doch lieber zu einem Opt-out überzugehen. Das heißt, jeder, der nicht widerspricht, bekommt und behält eine solche ePA. Etwas böse gesagt: Man hat auf die Dummheit der Leute spekuliert, beziehungsweise mit der Bequemlichkeit gerechnet, dass sie sich nicht aktiv gegen die ePA aussprechen. Genauso war es. Etwa 5 bis 6 Prozent haben der ePA widersprochen. Die meisten haben sich damit wohl nicht auseinandergesetzt.

Werbekampagne statt Aufklärung

Ich denke, die Krankenkassen hätten die Pflicht gehabt, die Patienten über die ePA gründlich zu informieren - und zwar über Vor-und Nachteile. Doch unter Minister Lauterbach gab es eher eine Art Werbekampagne: Die ePA rettet Leben, im Notfall kann der Arzt sofort nachschauen, was dem Patienten fehlt. Das spart Zeit und so weiter.

Aber es ist doch so, dass nach wie vor sehr wenige die ePA aktiv nutzen, obwohl sie ja für jeden eingerichtet wurde. Die legen also ihre Abrechnungsdaten auf die ePA. Dort bleiben sie und werden irgendwann von einem Arzt geöffnet. Da steht dann eben: der Patient hatte eine depressive Episode. Das sieht auch der Orthopäde oder der Gastroenterologe. Wozu eigentlich? 

Ursprünglich war vorgesehen, dass die Ärzte nur eine bestimmte Auswahl der Einträge sehen können, sodass dem Orthopäden beispielsweise psychologische Befunde nicht angezeigt werden - aber das funktioniert derzeit noch nicht.

Diagnosen für die Ewigkeit

Viele Psychotherapeuten verweigern deswegen die Arbeit mit der ePA, weil sie ihre Diagnose den Patienten nicht ans Bein heften wollen. Die Krankenkassen können die Diagnose trotzdem und ungefragt  in die Akte schreiben. Für sie ist das eben nur ein Tastendruck. 

Und es gibt auch eine Lockprämie. Derjenige Arzt, der als erster eine ePA befüllt, kann extra 10 Euro dafür abrechnen.  Ärzte, die an die Telematik angeschlossen sind, können die ePA aktiv nutzen. Und die Patienten müssen sich dafür eine laden. Das haben bisher ganze 2 bis 5 Prozent getan.

Technische Realität vs. versprochene Vorteile

In anderen Worten: Fast jeder hat eine ePA und weiß nicht, was drin steht. Ich vermute, die meisten haben die entsprechende Info von der Krankenkasse auf kürzesten Weg in den Papierkorb versenkt, ohne genau zu verstehen, worum es geht.

Zusammengefasst: Wir haben die hochgejubelte ePA, von der keiner weiß, was genau drinsteht und die auch nicht sinnvoll nutzbar ist. 

Jeder weiß: Für manche Dinge werden gestellt, die nicht ganz der Realität entsprechen. Wenn beispielsweise eine Patientin bei ihrem Hausarzt klagt, wie sehr sie sich über ihre Schwiegermutter geärgert hat, kann er seinen Zeitaufwand über ein längeres Gespräch im Zusammenhang einer psychosomatischen Erkrankung abrechnen. Er schreibt dann eben “reaktive ” oder “kurze depressive Episode” auf. Das steht dann in der ePA. Oder ein Betablocker kann für eine Hypertonie oder für eine koronare Herzerkrankung eingesetzt werden.

Irgendeine der Diagnosen wird aufgeschrieben, um die Verordnung zu begründen. Egal, ob das der vollständigen Realität entspricht: in der ePA bleibt es stehen. Ein junger Mensch mit Liebeskummer kann dann im schlimmsten Fall für alle Zeiten mit einer depressiven Episode vermerkt sein, wenn er nicht irgendwann einmal aktiv hergeht und das löschen lässt. Es könnte auch sein, dass eines Tages beispielsweise der Betriebsarzt fragt, ob er in die ePA schauen darf. Und dann sieht er: Der Kollege hatte schon einmal eine Depression. 

Ein anderes Beispiel: Auch jeder Apotheker kann in die ePA schauen. Wenn ein Patient sein E-Rezept einlöst, hat der Apotheker, ohne nachzufragen, für zwei Wochen . Auch Pflegedienste und Physiotherapeuten sollen in Zukunft in die ePA schauen dürfen. Diese müssen aber wiederum die Erlaubnis des Patienten einholen.

Wie dem auch sei:  es wird ein großer Personenkreis sein, der Zugriff auf die Daten hat. Das kann schonmal dumm ausgehen für Menschen, die ihre Akte nicht selbst aktiv bearbeiten.

Den Patienten wird erzählt, wie toll es sei, dass der Doktor jederzeit Zugriff auf die Akte hat, weil so die Berichte aus den Krankenhäusern schneller fertig und verfügbar werden. 80% der Krankenhäuser sagen aber, sie können die Arztbriefe derzeit noch gar nicht hochladen. Viele sind technisch dazu nicht in der Lage. Dieser potenzielle Vorteil funktioniert schlicht und ergreifend nicht. In meinen Augen wird hier der Öffentlichkeit eine Traumwelt vorgegaukelt.

Daten als das neue Gold

Es sei auch erwähnt, dass das Ganze durchaus diskriminierend sein kann für Menschen, die älter und nicht so technikaffin sind oder schlicht gar kein Handy haben. Das gilt auch für Kinder, deren Eltern der Akte nicht widersprechen. Sie wird einfach angelegt und ist dann bis auf Weiteres  in der Welt.

Wir Ärzte sagen eigentlich: so eine elektronische Akte wäre super - wenn der Patient entscheidet, dass er das haben will und es aktiv nutzt. Dann macht das Sinn. 

Aber wie es jetzt ist, sehe ich nur Nachteile. Befunde landen vor allem als PDF-Dateien in der Akte - ohne Suchfunktion. Ich müsste also alle PDF öffnen und suchen, was für mich als behandelnde Ärztin relevant ist. Das kostet natürlich Zeit! Das ist auch juristisch ein Problem. Wenn es dumm läuft und ich übersehe etwas, weil ich die PDF nicht durchforstet habe, kann das eng werden.

Warum geht die ePA trotz allem so unfertig in die Welt? Sicher, weil es um die Daten für die Forschung geht. Daten sind das neue Gold, das wissen wir ja. Google und andere können an diesen Daten ihre KI trainieren. Auch darum sollen die Daten auf zentralen Servern liegen. Die müsste man eigentlich sichern wie Fort Knox. Aber daran gibt es natürlich auch Zweifel.