Update S3-Leitlinie zur Behandlung des chronischen Tinnitus
Die S3-Leitlinie zur Therapie des chronischen Tinnitus wurde komplett überarbeitet und aktualisiert. Wir haben die wichtigsten Aussagen zu Noisern, Ginko, Akupunktur und Co. für Sie zusammengefasst.
Neues zur Behandlung des chronischen Tinnitus auf einen Blick:
- Vor der Therapieeinleitung muss zwischen dem akuten Tinnitus und der chronischen Form differenziert werden, da sich die Behandlungsstrategien hier deutlich unterscheiden.
- Zu den Interventionen, die bei chronischem Tinnitus zum Einsatz kommen sollten, zählen Counselling, Ausgleich des Hörverlustes (Hörgerät, Cochlea-Implantat), Tinnitus-spezifische Psychotherapie, Hörtherapie, Mitbehandlung psychischer bzw. psychosomatischer Komorbiditäten, Selbsthilfegruppen und evtl. die Tinnitus-Retraining-Therapie.
- Es besteht keine ausreichende Evidenz für den Einsatz von Medikamenten (außer zur Behandlung von Begleiterkrankungen), Nahrungsergänzungsmitteln, Sound- und Musiktherapien, Rauschgeneratoren (Noiser), Neuromodulationen und Akupunktur bei chronischem Tinnitus.
Das Angebot zur Tinnitus-Therapie ist groß, der Nutzen teilweise fraglich
Zur Behandlung des chronischen Tinnitus, der laut Definition der aktuellen S3-Leitlinie (erstellt unter der Federführung der Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V.) mindestens drei Monate andauert, sind zahlreiche mehr oder weniger effektive Maßnahmen verfügbar. Im Folgenden wollen wir Ihnen eine Übersicht über die Therapiestrategien geben, von denen im Leitfaden nach derzeitiger Evidenzlage zu- bzw. abgeraten wird.
Empfehlenswerte Behandlungsoptionen bei chronischen Ohrgeräuschen sind:
- Counselling: Diese gründliche Patientenaufklärung ist die Grundlage der Therapie; im Gespräch sollten die Erkrankten über Ätiologie, Behandlungsprozedere und Prognose aufgeklärt werden. V. a. sind die Benignität der Erkrankung zu betonen und Ängste, aber auch überzogene Heilungserwartungen abzubauen.
- Hörgeräte und Cochlea-Implantat (CI): Häufig geht ein Tinnitus mit einem Hörverlust einher. Die Schwerhörigkeit sollte durch Hörhilfen ausgeglichen werden, da dies auch die empfundene Belastung durch die Ohrgeräusche teilweise positiv beeinflusst. Unabhängig vom Alter der Person kann bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Ertaubung (ein- oder beidseitig) die CI-Versorgung eine gute Tinnitussuppression bewirken.
- Hörtherapie: Die sogenannte Audiotherapie vermag bei der Gewöhnung an die Ohrgeräusche helfen und ist zu empfehlen. Das Verfahren beinhaltet u. a. Übungen, die das Überhören des Tinnitus fördern. Darüber hinaus verbessert die Hörtherapie die Akzeptanz von Hörgeräten.
- Verhaltenstherapie und psychodynamische Behandlung: Verhaltenstherapeutische Verfahren fördern die Tinnitushabituation und sind heute ein Eckpfeiler der Behandlung. Grundsätzlich müssen sich die Erkrankten jedoch für ein derartiges Verfahren eignen bzw. darauf einlassen können. Für tiefenpsychologische psychodynamische Interventionen kann mangels evaluierter Untersuchungen derzeit keine evidenzbasierte Empfehlung gegeben werden.
- Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT): Bei der Habituationstechnik wird mithilfe von frequenzunmoduliertem Rauschen der auditorische, emotionale und autonome Impact des Ohrgeräusches vermindert und damit die Stressantwort auf den Tinnitus-Stimulus reduziert. Die TRT kann als langfristige, mindestens 12-monatige Maßnahme bei chronischem Tinnitus erwogen werden.
- Manualmedizinische Untersuchung und physiotherapeutische Folgeversorgung: Liegen Begleiterkrankungen der HWS bzw. des Kauapparates vor, die möglicherweise in Zusammenhang mit dem Tinnitus stehen, sollte die manualmedizinische Diagnostik und ggf. physiotherapeutische Therapien zum Einsatz kommen.
- Selbsthilfe: Die Betroffenen sind zur Teilnahme an Selbsthilfeangeboten zu motivieren, auch wenn derzeit wenig um den positiven Effekt auf den Tinnitus bekannt ist. Internet-basierte Therapieprogramme und Apps werden in der S3-Leitlinie allerdings nicht empfohlen.
Im Gegensatz zu den genannten Verfahren existiert für folgende Maßnahmen bei Tinnitus keine Evidenz:
- Rauschgeneratoren (Noiser): Die Wirksamkeit von Rausch-CDs und Co. ist nicht bewiesen; dies gilt auch für die Anwendung bei Personen mit Hörverlust, denen z. T. die Integration der Noiser-Funktion ins Hörgerät angeboten wird.
- Musik- und Sound-Therapie: Es gibt keinen Beleg, dass derartige Behandlungsansätze einen positiven Einfluss auf die Tinnitus-Erkrankung haben. Zum Teil werden sie von den Fachleuten sogar als negativ bewertet, da sie der Gesundheit schaden könnten.
- Arzneimittel: Es gibt keine ausreichenden Daten, welche die Wirksamkeit einer medikamentösen Therapie nachweisen. Untersucht wurden Betahistin, Ginkgo, Antidepressiva, Benzodiazepine, Zink, Melatonin, Cannabis, Oxytocin, Steroide und Gabapentin. Pharmazeutika können allerdings bei der Behandlung von Komorbiditäten (z. B. Angststörungen, Depressionen) hilfreich sein.
- Repetitive transkranielle Magnetstimulation: Die Wirksamkeit des Verfahrens, das auf der Beeinflussung der neuronalen Erregbarkeit oberflächlicher Gehirnareale beruht, ist fraglich.
- Elektrostimulation: Absehen sollte man auf die zum Teil sogar riskante Elektrostimulation; hierzu zählen Verfahren wie die transkranielle Elektrostimulation, Vagusnerv-Stimulation, intracochleäre Elektro-Stimulation, transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und Low-Level-Lasertherapie.
- Nahrungsergänzungsmittel: Vitamine, Mineralien oder Phytotherapeutika haben keinen nachgewiesenen Nutzen bei chronischem Tinnitus.
- Akupunktur: Auf die fernöstliche Therapie sollte bei Tinnitus verzichtet werden.
Fazit für die Praxis
Das A und O beim chronischen Tinnitus ist das Aufzeigen von Verfahren, mit denen die Betroffenen trotz der Erkrankung eine gute Lebensqualität erzielen können. Essenziell ist hierfür die ärztliche Beratung, bei der geeignete Möglichkeiten zur Tinnitushabituation aufzeigt und Ängste genommen werden; hierbei ist es auch wichtig, über ineffektive und teilweise sogar riskante Maßnahmen aufzuklären.
S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Register Nr.017/064