Neubewertung des SRY-Tests zur Teilnahmeberechtigung weiblicher Athletinnen
Die Einführung des SRY-Genscreenings durch World Athletics zur Teilnahmeberechtigung weiblicher Athletinnen eröffnet erneut eine heikle Debatte an der Schnittstelle von Genetik, Endokrinologie und medizinischer Ethik.
Der SRY-Gentest zur Definition der weiblichen Kategorie im Sport
Im September 2025 führte World Athletics eine Regelung ein, nach der Athletinnen, die in der Frauenkategorie antreten, sich einem Gentest auf das Vorhandensein des SRY-Gens unterziehen müssen. Dieser Ansatz, der als objektiver Marker für das biologische gedacht ist, hat eine breite Diskussion unter Klinikern, Ethikern und Sportfachleuten ausgelöst. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob SRY das biologische Geschlecht genau widerspiegelt, sondern auch darum, ob es angemessen ist, einen einzigen molekularen Determinanten in Kontexten zu verwenden, in denen Fairness, Privatsphäre und Menschenrechte gleichermaßen auf dem Spiel stehen.
Biologie der Geschlechtsbestimmung
Die Entdeckung des SRY-Gens (Sex-determining Region Y) auf dem Y-Chromosom im Jahr 1990 markierte einen Wendepunkt in der Humangenetik. Sinclair und Kollegen zeigten, dass SRY einen Transkriptionsfaktor kodiert, der in der Lage ist, die bipotente Gonade zur Entwicklung von Hoden zu lenken. Kurz darauf bestätigten funktionelle Nachweise in Mausmodellen, dass die Insertion von SRY in XX-Embryonen ausreichte, um eine Testikeldifferenzierung zu induzieren. SRY aktiviert nachgeschaltete Ziele wie SOX9, das die Sertoli-Zelldifferenzierung und die Produktion des Anti-Müller-Hormons weiter fördert und eine Kaskade in Gang setzt, die zur Rückbildung der Müller-Gänge und zur Maskulinisierung des Embryos führt.
Allerdings reicht SRY allein nicht immer aus. oder Deletionen im Gen können zu einer 46,XY-Gonadendysgenesie (Swyer-Syndrom) führen, bei der die Betroffenen trotz des Vorhandenseins eines Y-Chromosoms einen weiblichen Phänotyp aufweisen. Umgekehrt kann die Translokation von SRY auf das X-Chromosom bei 46,XX-Personen zu einer Hodenentwicklung führen. Diese Beobachtungen unterstreichen, dass die Geschlechtsbestimmung nicht durch einen einzigen genetischen Schalter, sondern durch ein Netzwerk von Genen und hormonellen Signalen bestimmt wird.
Differenzen der Geschlechtsentwicklung (DSD)
Störungen oder Unterschiede der Geschlechtsentwicklung stellen eine heterogene Gruppe von Erkrankungen dar, bei denen das chromosomale, gonadale oder phänotypische Geschlecht vom typischen binären Geschlecht abweicht. Das vollständige Androgeninsensitivitätssyndrom (CAIS) veranschaulicht die Grenzen eines SRY-basierten Ansatzes: Personen mit einem 46,XY-Karyotyp und intaktem SRY produzieren normale Testosteronspiegel, doch Mutationen im Androgenrezeptor führen dazu, dass das Gewebe nicht mehr reagiert, was zu einem vollständig weiblichen Phänotyp führt. In ähnlicher Weise verhindert ein 5-Alpha-Reduktase-Mangel die Umwandlung von Testosteron in Dihydrotestosteron, was zu einer Untervirilisierung bei der Geburt, aber zu einer variablen Virilisierung in der Pubertät führt.
Die Prävalenz von DSD wird auf etwa 1 von 4.500 Lebendgeburten geschätzt, wobei die Definitionen variieren. Obwohl selten, treten diese Erkrankungen besonders im Spitzen zutage, wo physiologische Ausreißer genau unter die Lupe genommen werden. Die Vorschriften der World Athletics der letzten Jahre, die sich ursprünglich auf den Testosteronspiegel konzentrierten, sind bereits in die Kritik geraten, weil sie unverhältnismäßig stark auf Athleten mit DSD abzielen, was Bedenken hinsichtlich der medizinischen Ethik und der Menschenrechte aufwirft.
Die Grenzen von SRY als Kriterium
Die Verwendung des SRY-Status als binäres Kriterium für die Teilnahmeberechtigung von Sportlerinnen ist wissenschaftlich problematisch. Das Vorhandensein von SRY ist nicht gleichbedeutend mit einer männlichen phänotypischen Entwicklung, wie CAIS und andere DSD-Erkrankungen zeigen. Umgekehrt garantiert sein Fehlen nicht den weiblichen Phänotyp, wie in Fällen von XX-Männern aufgrund einer SRY-Translokation. Aus klinischer Sicht birgt der Test das Risiko, Ergebnisse zu liefern, die eine genetische Beratung, und möglicherweise lebenslange medizinische Konsequenzen erfordern – Elemente, die weit über den Zuständigkeitsbereich eines Sportverbandes hinausgehen.
Darüber hinaus bleibt der Zusammenhang zwischen dem SRY-Status und der sportlichen Leistung indirekt. Während Testosteronspiegel und Androgensensitivität direkter mit Muskelmasse und Hämoglobinkonzentration zusammenhängen, ist SRY selbst vorgelagert und garantiert keinen Wettbewerbsvorteil. Der Test birgt somit die Gefahr, genetische Präsenz mit funktioneller Wirkung zu verwechseln.
Ethische und klinische Implikationen
Die Einführung von SRY-Tests im Sport wirft eine Reihe ethischer und klinischer Herausforderungen auf. Sportler könnten unerwartet die Diagnose DSD erhalten und damit in einem nicht-medizinischen Umfeld mit sensiblen genetischen Informationen konfrontiert werden. Das Fehlen einer strukturierten Beratung und Nachsorge könnte Stigmatisierung und psychische Belastungen verstärken. Hinzu kommt die allgemeine Frage der Fairness: Die gezielte Untersuchung von Frauen mit seltenen genetischen Variationen birgt die Gefahr, dass Ausgrenzungspraktiken verstärkt werden, während die multifaktoriellen Determinanten der Leistung, zu denen Training, Umfeld und sozioökonomischer Kontext gehören, außer Acht gelassen werden.
Für Kliniker bringt die Regelung neue Verantwortlichkeiten mit sich. Sportmediziner und Endokrinologen könnten aufgefordert werden, SRY-Ergebnisse zu interpretieren, zufällige Befunde zu bearbeiten und Sportler bei komplexen medizinischen und psychologischen Folgen zu unterstützen. Dies verstärkt die Notwendigkeit multidisziplinärer Teams (einschließlich Genetikern, Ethikern und Psychologen), wann immer solche Tests vorgeschlagen werden.
Biologie ist komplex
Die Einführung obligatorischer SRY-Tests im Frauensport verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen regulatorischer Klarheit und biologischer Komplexität. Das Gen ist zwar ein entscheidender Faktor für die Geschlechtsentwicklung, aber es ist weder notwendig noch ausreichend, um das biologische Geschlecht in allen Fällen zu definieren, und es hat kaum einen direkten Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit. Sowohl für die Medizin als auch für den Sport besteht die Herausforderung darin, die Kontinuität der menschlichen Biologie anzuerkennen, ohne sie auf einen simplen Marker zu reduzieren. Zukünftige Richtlinien sollten einen mehrdimensionalen Rahmen verfolgen, der chromosomale, hormonelle, phänotypische und ethische Perspektiven kombiniert, anstatt sich auf ein einziges Gen zu stützen, um die Teilnahmeberechtigung zu beurteilen.
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