Reformen des Gesundheitswesens sind überfällig

Sowohl der Deutsche Städtetag als auch die neueste Erhebung des Marburger Bundes stellen heraus: die Gesundheitsversorgung in Deutschland wird aktuell in weiten Teilen nicht in der erwarteten Qualität sichergestellt.

Marburger Bund-Umfrage 2022 zeigt, dass das Personal an der Belastungsgrenze ist

Personalnotstand, anhaltend zu hohe Arbeitsbelastung, ökonomische Zwänge, viele Überstunden, sowie immer mehr Zeit, die für administrative Tätigkeiten verloren geht – zu diesem Fazit kommt zudem der "MB-Monitor 2022", eine Erhebung des Marburger Bundes unter 8.464 angestellten Ärzten aus allen Bereichen des Gesundheitswesens.2 Die meisten Befragten arbeiteten in Akutkrankenhäusern und Reha-Kliniken, ein kleinerer Teil in ambulanten Einrichtungen. 

Unzufriedenheit über Arbeitszeiten und Dienstfrequenz, Überlastung sowie Unvereinbarkeit von Beruf und Familie haben es nach sich gezogen, dass die Betroffenen selbst Kürzungen bzw. Arbeitszeitreformen in die Hand nahmen: so ist der Anteil der Teilzeit-Verträge auf 31% gestiegen (vor knapp 10 Jahren waren es noch 15%).

Chronischer Personalmangel bzw. -ausfälle und die Tatsache, dass in vielen Kliniken sogar in solchen Zeiten weiter Stellen gestrichen werden, erhöht die Belastung des verbleibenden Personals. Die Frage: "Gab es in den zurückliegenden zwei Jahren der Pandemie einen Abbau ärztlicher Stellen in Ihrer Einrichtung?" beantworteten 34% mit "ja", 18% waren sich nicht sicher und 48% verneinten.2

Medizinisches Personal wie auch Kranke sind Leidtragende der Fehlentwicklungen

Als einer der Hauptgründe für Burnout und chronischen Zeitmangel im Patientenkontakt wird seit Jahren konstant die Bindung von Fachkräften durch Verwaltungstätigkeiten genannt (z. B. Datenerfassung und Dokumentation, OP-Voranmeldung). Ein Drittel der Befragten schätzten den Zeitaufwand für Verwaltungstätigkeiten und Organisation auf mindestens vier(!) Stunden täglich. Etliches davon könnte auch von Schreibdiensten oder Stationssekretariaten erledigt werden. 

Vor dem aktuellen Hintergrund forderten MB und VLK im Januar in einem offenen Brief an die Gesundheitsminister von Bund und Ländern eine akute Reduzierung bürokratischer Lasten auf das zwingend Notwendige. Eine Halbierung der Dokumentationslast würde allein im ärztlichen Bereich das Stundenäquivalent von 32.000 Vollzeitstellen für die Patientenversorgung zur Verfügung stellen.4

Auch Dr. med. Thomas Strohschneider, Facharzt für Allgemein- und Gefäßchirurgie und früher selbst jahrelang Chefarzt an einer Klinik eines privaten Trägers, sagt: "Stoppt das Kliniksterben!" In seinem 2022 erschienenen Buch "Krankenhaus im Ausverkauf" zeigt er anschaulich auf, wie die Kommerzialisierung der Medizin die Versorgung der Kranken gefährdet und die Kliniken zu zerrütten droht. Und als jemand, der dies über Jahre als Arzt in leitenden Positionen tagtäglich miterlebt hat, illustriert er, welches Leid bürokratische Phänomene, wie "Case Mix Index", "Fallpauschale" oder "Grenzverweildauer", für Patienten und Klinikpersonal bringen.3

In der Summe verschleißt das System dadurch viele fachlich gute und empathische Ärzte und Pflegekräfte, die ursprünglich wirklich für den Beruf und die Medizin gebrannt haben. Seit Jahren geben Klinikärzte wie niedergelassene Mediziner in Umfragen mehrheitlich an, dass sie ihren eigenen Kindern niemals zum Arztberuf raten würden.3 Laut des "MB-Monitor 2022" trugen sich 25% mit dem Gedanken, nicht nur die Stelle, sondern den Beruf zu verlassen.

Städtetag fordert: ambulante Versorgung in Reformen einbeziehen

Ökonomisierung im Sinne eines bedachten Einsatzes von Ressourcen ist zweifellos notwendig – die Kritik und die Rufe nach Reformen richten sich jedoch gegen wirtschaftliche Fehlanreize und Kommerzialisierung.
Dr. med. Werner Bartens, Internist und mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftsjournalist, schreibt im Vorwort zu Strohschneiders Buch: "Das Gesundheitswesen ist der größte Industriezweig in Deutschland neben der Automobilindustrie; in keinem anderen Bereich gibt es so viele registrierte Lobbyisten. Mittlerweile sind etwa 40% der Krankenhausbetten in privater Hand und werden von Klinikketten und Aktiengesellschaften geführt. Arztpraxen werden aufgekauft und in privatwirtschaftlich straff kalkulierten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) gebündelt, für die angestellte Doktoren Budgetvorgaben erzielen müssen. Krankenhauskonzerne sind ein stabiler Bestandteil von Fonds und Depots, weil sie zuverlässige Gewinne versprechen. Das Prinzip ist immer das gleiche: Einnahmen aus den gesetzlichen Krankenkassen werden privatisiert und dienen zur Steigerung des Shareholder Value. Gerät eine Klinik ins Straucheln oder kann die geplanten Investitionen doch nicht schultern, werden die Ausgaben hingegen auf die Gemeinschaft umgelegt und staatliches Geld wird beansprucht."3

Das spiegelt sich in der aktuellen Notlage wider: Wie Vizepräsident Jung beim "Deutschen Städtetag" ausführte, müssen die Kommunen oft in Windeseile viele Millionen Euro zuschießen, um die Versorgung der Bevölkerung zu garantieren. Das kann nur eine Notlösung sein. Städte seien keine Ausfallbürgen für Bund und Länder. Jung warnte eindringlich vor Krankenhaus-Insolvenzen in den nächsten Monaten, wenn nicht schnell Hilfen vor Ort ankommen. Bereits jetzt fingen Krankenhäuser die Defizite der ambulanten Strukturen auf, obwohl sie keinen Auftrag haben und Leistungen nicht refinanziert werden. Er fordert daher von Bund und Ländern auch die Reformierung der ambulanten Strukturen.1
 

Quelle:
  1. Akute Nothilfe für Krankenhäuser mobilisieren, Insolvenzen. https://www.staedtetag.de/presse/pressemeldungen/2023/gesundheitsversorgung-akute-nothilfe-fuer-krankenhaeuser-mobilisieren.
  2. MB-Monitor 2022: Zu wenig Personal, zu viel Bürokratie, unzulängliche Digitalisierung | Marburger Bund. http://www.marburger-bund.de/bundesverband/themen/marburger-bund-umfragen/mb-monitor-2022-zu-wenig-personal-zu-viel-buerokratie.
  3. Thomas Strohschneider – Krankenhaus im Ausverkauf – Ein Buch vom Westend Verlag. Westend Verlag GmbH https://www.westendverlag.de/buch/krankenhaus-im-ausverkauf/.
  4. Die Kliniken sind am Anschlag | Marburger Bund. http://www.marburger-bund.de/thueringen/pressemitteilung/die-kliniken-sind-am-anschlag.

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