Schmerztherapie: Die Zukunft ist Teamarbeit

Schmerz ist ein Milliardenproblem, die Versorgung unzureichend. Prof. Hermann beleuchtet, wie ein interdisziplinärer Ansatz von Ärzten, Psychologen, Physiotherapeuten und Pflege chronische Schmerzen lindern und die Gesundheitslandschaft transformieren kann.

Interview mit Professor Dr. Christiane Hermann 

esanum: Frau Prof. Hermann, der Aktionstag gegen den Schmerz ist Anlass zu fragen: Ist Schmerz vermeidbar?

Prof. Christiane Hermann: Die ganz klare Antwort darauf ist: Nein. Schmerz ist ein essenzielles Warnsignal für eine potenzielle oder tatsächliche Gewebeschädigung. Bei jeder Verletzung signalisiert der Schmerz Gefahr – so zieht man die Hand rechtzeitig von einer heißen Herdplatte weg oder schont einen verstauchten Fuß, bis er abgeheilt ist. Insofern ist Schmerz nicht vermeidbar.

Schmerz, Ängste, depressive Stimmung – ein Zusammenspiel, das deutlich mehr in Aus- und Weiterbildung sowie Versorgung vermittelt und berücksichtigt werden muss

esanum: Es geht beim Aktionstag auch um Schmerz, Ängste, depressive Stimmung. Eine Kaskade aus Dingen, wo eins aus dem anderen folgt.

Prof. Christiane Hermann: Es geht vor allem um die Entwicklung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen. Das bedeutet, der Schmerz selbst wird zur Erkrankung. Und da spielen natürlich psychosoziale Aspekte neben den biologischen Faktoren eine entscheidende Rolle.

Schmerz als biopsychosoziales Phänomen

esanum: Das leuchtet ein. Ihr Anliegen ist es, diese Tatsache stärker in die Aus- und Weiterbildung sowie in die Versorgung einzubeziehen.

Prof. Christiane Hermann: Unser Anliegen ist es, die interdisziplinäre Herangehensweise in der Schmerzbehandlung noch stärker umzusetzen. Schmerz ist ein biopsychosoziales Problem, nicht nur ein medizinisches. Es geht darum, dass wir psychosoziale Komponenten stärker berücksichtigen, was bisher noch viel zu wenig geschieht. In der Aus- und Weiterbildung, also in den Curricula der Studiengänge, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit noch nicht ausreichend verankert. Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Pflege- und Physiotherapeuten müssen lernen, eine gemeinsame Sprache zu finden, um Patienten angemessen interdisziplinär zu behandeln. Das Thema Schmerz ist in der Psychologie noch am wenigsten präsent, in der Medizin hingegen wird Schmerz oft zu somatisch betrachtet. Wir müssen angehende Psychotherapeuten stärker für das Thema Schmerz interessieren.

Teamarbeit für eine bessere Schmerzversorgung

esanum: Sie sagen, Schmerzversorgung ist Teamarbeit. Wer gehört alles zu diesem Team?

Prof. Christiane Hermann: Zum Team gehören Ärzte verschiedener Disziplinen, wie Anästhesisten, Neurologen, Orthopäden, aber auch Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten, die Pflege, die Physiotherapie und je nach Schmerzerkrankung auch die Ergotherapie. Das sind die Hauptbeteiligten.

esanum: Und diese müssten alle zusammengebracht werden, wenn ein chronischer Patient sich nicht bessert?

Prof. Christiane Hermann: Die Idee wäre sogar, nicht zu warten, bis der Schmerz so weit chronifiziert ist, dass nichts mehr hilft. Es wäre viel besser, sich bereits früher im Chronifizierungsprozess interdisziplinär zusammenzusetzen, um einen aufeinander abgestimmten Behandlungsplan zu entwerfen. Damit es gar nicht erst soweit kommen muss. Das ist im Moment nicht ausreichend umgesetzt.

esanum: Wie soll das funktionieren? Ich stelle mir vor, man geht mit starken Rückenschmerzen zum Arzt. Da ist erstmal nur der Orthopäde oder Hausarzt involviert. Wie soll man diese Teamarbeit organisieren?

Prof. Christiane Hermann: In ambulanten Settings könnten Netzwerke geschaffen werden. Der Hausarzt wüsste dann zum Beispiel, welcher Psychotherapeut oder Physiotherapeut sich ebenfalls mit Schmerzen auskennt. Die Befunde aus Medizin, Psychotherapie und Physiotherapie könnten im Rahmen einer interdisziplinären Fallkonferenz besprochen werden, um einen abgestimmten Plan für den Patienten zu entwickeln.

esanum: Davon sind wir doch extrem weit entfernt.

Prof. Christiane Hermann: Das ist das Problem. Aber mit der Ambulantisierung wäre die Idee, solche Netzwerke zu schaffen. Es gibt bereits Initiativen: Wir in Gießen haben ein Netzwerk von verschiedenen Professionen, die sich mit Schmerzbehandlung beschäftigen. Wenn ein Orthopäde beispielsweise einen Rückenschmerzpatienten hat, könnte er über unser internes Online-System nachschauen, welcher Psychologe oder Psychotherapeut sich beteiligen könnte. Wir kooperieren beispielsweise auch mit verschiedenen medizinischen Einrichtungen, die ärztliche Befunderhebungen machen, während wir die psychologische Befunderhebung durchführen. Die größte Herausforderung ist im Moment, dass der gemeinsame Austausch im Rahmen einer interdisziplinären Fallkonferenz noch nicht adäquat abgebildet und abrechenbar ist. Im stationären oder teilstationären Bereich ist dies einfacher umzusetzen, da dort in der Regel bereits Behandlungsteams existieren und regelmäßige Fallbesprechungen stattfinden.

esanum: Sie sagten eben, eine Bildgebung muss nicht immer sein. Lieber einen Psychologen hinzuziehen als eine Bildgebung?

Prof. Christiane Hermann: Dieses Gegeneinander-Ausspielen ist nicht angemessen. Es gibt klare Indikationskriterien für eine Bildgebung, aber man muss sie nicht in jedem Fall durchführen. Ein biopsychosoziales Verständnis von Schmerz bedeutet, dass alle drei Komponenten – biologisch/somatisch, psychologisch und sozial – berücksichtigt werden müssen. Das schließt auch die berufliche oder familiäre Situation des Patienten ein, da diese Kontextfaktoren den Verlauf der Schmerzchronifizierung beeinflussen.

Herausforderungen und Lösungsansätze in der Versorgung

esanum: Wie weit sind wir von dieser überzeugenden Herangehensweise entfernt?

Prof. Christiane Hermann: Teilstationär und stationär ist sie bereits umgesetzt, aber im ambulanten Bereich sind wir noch weit davon entfernt. Momentan hängt es stark vom Engagement einzelner Kolleginnen und Kollegen ab. Das größte Problem ist, dass nicht frühzeitig interveniert wird, sondern erst, wenn Patienten bereits jahrelange Schmerzprobleme haben. 

esanum: Schmerz hat auch eine wirtschaftliche Komponente: 38 Milliarden Euro kosten schmerzbedingt Krankengeld, Arbeitsunfälle und Frühberentungen jährlich. Allein das wäre ein Grund, energischer auf eine Verbesserung der Versorgung hinzuwirken. Wer kümmert sich darum, die Versorgung voranzubringen?

Prof. Christiane Hermann: Die Deutsche Schmerzgesellschaft setzt sich mit ihren berufspolitischen Forderungen stark dafür ein. Auch andere Fachgesellschaften wie der BVSD drängen auf Verbesserungen der Versorgungssituation. Aktuell beschäftigt sich die Krankenhausreform mit der Frage, wie Schmerz adäquat im Hinblick auf die Versorgungsbedarfe abgedeckt werden kann. Krankenkassen, der G-BA und die Krankenhausgesellschaften sind hier wichtige Akteure.

Der Hausarzt als Dreh- und Angelpunkt

esanum: Gehen wir noch einmal zurück auf dieses Ideal: Wie sollte der Hausarzt mit seinem nächsten Schmerzpatienten idealerweise vorgehen, wenn wir ein Wunschkonzert hätten?

Prof. Christiane Hermann: Im Idealfall sollte der niedergelassene ärztliche Kollege die sogenannten psychologischen Risikofaktoren abfragen – die "Flaggen", wie erhöhte Ängstlichkeit oder Depression, die bekanntermaßen Risikofaktoren für eine Chronifizierung sind. Nach Erhebung des somatischen Befundes und des Patientengesprächs könnte er entweder einen angestellten Psychotherapeuten in der Praxis haben oder auf ein lokales Netzwerk verweisen, das sich auf die Behandlung von Schmerzpatienten spezialisiert hat. Der Patient erhielte dann Termine bei Psychotherapeuten und Physiotherapeuten. Die drei beteiligten Behandler könnten dann eine interdisziplinäre Fallkonferenz abhalten, um ihre Befunde zusammenzutragen und einen stimmigen Behandlungsplan zu entwerfen. Dieser Plan, der beispielsweise körperliche Aktivierung oder eine Schmerzpsychotherapie umfassen könnte, würde dem Patienten dann kommuniziert. Wichtig wäre, dass die Zeit, die die beteiligten Professionen für diese Fallkonferenz aufwenden, auch vergütet wird, da dies momentan oft auf persönlichem Engagement basiert.

Herausforderungen und die Rolle der Gesundheitskompetenz

esanum: Ganze zehn Prozent der Betroffenen landen bei spezialisierten Schmerzexpertinnen. Das klingt dramatisch. Wie kann dieser Befund zeitnah verbessert werden?

Prof. Christiane Hermann: Eine zeitnahe Verbesserung ist schwierig. Ein wichtiger Aspekt ist die Gesundheitskompetenz ("Health Literacy") der Allgemeinbevölkerung. Es gilt, die Menschen grundlegend über Schmerz zu informieren: Was passiert bei Schmerzen, wie geht man damit um? Viele Betroffene thematisieren ihre Schmerzen möglicherweise gar nicht oder suchen keine Behandlung. Oder der Hausarzt ist nicht ausreichend informiert. Es ist eine komplexe Gemengelage. Zum Glück chronifiziert akuter Rückenschmerz nicht bei allen Patienten. Informationen, etwa auf Homepages wie z.B. des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), können qualitätsgesicherte Hinweise geben, wann zum Beispiel eine Bildgebung bei Rückenschmerzen nicht zwingend notwendig ist. Solche Informationen müssen stärker in die Allgemeinbevölkerung gelangen, um eine indikationsgerechte Versorgung zu ermöglichen. Zudem gibt es das Problem, dass viele Psychotherapeuten nicht auf Schmerzbehandlung spezialisiert sind. Auch in der medizinischen Weiterbildung von Schmerzspezialisten gibt es Schwierigkeiten.

esanum: Ich habe eine abschließende, ganz praktische Frage für unsere Leserschaft, die hauptsächlich aus niedergelassenen Ärzten besteht. Was sollte der Hausarzt mit seinem nächsten Schmerzpatienten idealerweise machen, damit sich die Situation in die richtige Richtung bewegt?

Prof. Christiane Hermann: Ich würde sagen: Leitliniengerecht behandeln. Nationale Versorgungsleitlinien wie die zum Rückenschmerz oder die Leitlinien der DEGAM  (z.B. chronische, nicht tumorbedingte Schmerzen) geben hier klare Empfehlungen. Daran sollte man sich halten. Die Umsetzung ist im Moment noch schwierig, das ist verständlich. Aber der vielleicht erste Ansatz, sofort gleich das volle Diagnostikprogramm wie Bildgebung anzustoßen, sollte vor dem Hintergrund der Leitlinien kritisch geprüft werden.

Wer ist Prof. Christiane Hermann?

Prof. Dr. Christiane Hermann ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie und -Forschung (DGPSF e.V.) sowie Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie & Psychotherapie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.