Klinischer Wendepunkt
In den frühen Morgenstunden, während Mark noch unter genauer Beobachtung steht, nimmt die Situation in der Notaufnahme eine unerwartete Wendung. Gegen 07:15 Uhr wird ein weiterer 17-jähriger Teenager in dieselbe Abteilung eingeliefert. Er heißt Peter, ist ein enger Freund von Mark und seine Symptome sind auffallend ähnlich: wiederholtes Erbrechen, Verwirrtheit, abwechselnd Erregung und Schläfrigkeit sowie lebhafte visuelle Halluzinationen.
Im Gegensatz zu Mark hat Peter seinen Eltern jedoch bereits eine klare Erklärung gegeben. Als seine Symptome zu Hause auftraten, gestand er, dass er und Mark am frühen Abend gemeinsam Pilze gegessen hatten. Peter berichtete, dass er die Pilze mit den auffälligen „roten Hüten mit weißen Flecken" auf dem Land gesammelt und zu Mark mitgebracht hatte. Gemeinsam hätten sie diese aus Neugier verzehrt, „nur um deren Wirkung auszuprobieren". Wie Peter weiter erklärte, habe Mark seine Unpässlichkeit am Nachmittag nur vorgetäuscht, damit seine Eltern ihn nicht wie an üblichen Samstagabenden zum Ausgehen überreden würden.
Peters Eltern, alarmiert durch diese Erklärung, kommen mit den Resten der gesammelten Pilze in die Notaufnahme. Ihr Aussehen lässt kaum Zweifel aufkommen: leuchtend rote Hüte mit weißen warzigen Flecken, typisch für Amanita muscaria. Das regionale Giftinformationszentrum wird kontaktiert, und der Verdacht auf ein Pantherina-Syndrom wird umgehend bestätigt.
Von diesem Moment an löst sich das diagnostische Rätsel. Die in der Nacht in Betracht gezogenen breiten Differentialdiagnosen – Enzephalitis, Autoimmunerkrankungen, toxisch-metabolische Enzephalopathie, sogar eine erste Psychose – treten in den Hintergrund. Die Arbeitsdiagnose lautet nun akute Vergiftung mit Amanita muscaria.
Mark und Peter werden zur Beobachtung aufgenommen. Sie erhalten intravenöse Flüssigkeiten und werden sorgfältig überwacht; bei Auftreten von Unruhe werden Benzodiazepine in niedriger Dosierung verabreicht. Aktivkohle wird in diesem Fall als unwirksam erachtet, da seit der Einnahme mehr als drei Stunden vergangen sind und beide Patienten Bewusstseinsstörungen aufweisen. Im Laufe des nächsten Tages verbessert sich ihr Zustand stetig. 24 bis 36 Stunden nach der Einweisung sind Halluzinationen, Unruhe und Myoklonus vollständig abgeklungen. Die Laboruntersuchungen zeigen keine Leber- oder Nierenschäden.
Die beiden Jugendlichen werden in stabilem Gesundheitszustand entlassen und von ihren sichtlich erleichterten, wenn auch tief erschütterten Eltern, nach Hause begleitet. Zuvor erfolgte noch eine eingehende Aufklärung über die lebensgefährlichen Risiken, die mit dem Sammeln und Verzehr von Wildpilzen verbunden sind.
Diskussion zu Amanita muscaria
Amanita muscaria, der „Fliegenpilz“, ist einer der bekanntesten Pilze der Welt - aber auch einer der giftigsten. Seine Einnahme führt zum Pantherina-Syndrom, das typischerweise innerhalb von 30 bis 180 Minuten nach dem Verzehr einsetzt. Auf gastrointestinale Symptome, in der Regel leichte Übelkeit und Erbrechen, folgt ein ausgeprägtes neuropsychiatrisches Bild: Delirium, Halluzinationen, inkohärente Sprache, Bewusstseinsstörungen, Myoklonus oder Krampfanfälle. Ebenso typisch sind autonome Symptome: Mydriasis, Tachykardie, Diaphorese, Hypersalivation.
Die verantwortlichen Toxine sind Iboteninsäure (ein glutamaterger Agonist) und Muscimol (ein potenter GABA-A-Agonist). Muscarin, das dem Pilz seinen Namen gibt, ist nur in Spuren vorhanden und spielt bei diesem Syndrom keine Rolle.
Der Fall unterstreicht die Schwierigkeit, eine solche Intoxikation von anderen Notfällen zu unterscheiden. Die HSV-Enzephalitis bleibt die klassische „nicht zu übersehende“ Differentialdiagnose bei Jugendlichen mit Delirium und sollte immer eine Lumbalpunktion und eine empirische Behandlung mit Aciclovir nach sich ziehen. Eine autoimmune Enzephalitis, insbesondere Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, kann dieses Krankheitsbild mit Psychosen, Bewegungsstörungen und Dysautonomie nachahmen.
Eine erste psychotische Episode ist ein häufiges erstes Indiz, aber systemische Anzeichen wie Fieber, Mydriasis, Erbrechen und Schwitzen sind dafür untypisch. Synthetische Halluzinogene können ähnliche Merkmale hervorrufen, obwohl das gleichzeitige Auftreten bei zwei engen Kontaktpersonen eher auf eine gemeinsame Einnahme natürlicher Substanzen hindeutet.
Im Gegensatz zu Amanita phalloides, der potenziell tödliche Hepatotoxizität verursacht, ist eine A. muscaria-Vergiftung selten lebensbedrohlich. Die Behandlung bleibt unterstützend: intravenöse Flüssigkeiten, Benzodiazepine bei Unruhe oder Krampfanfällen und Schutz der Atemwege bei Bewusstseinstrübung. Aktivkohle kommt nur in frühen Stadien in Betracht. Die Prognose ist im Allgemeinen gut, mit spontaner Besserung innerhalb von 24 bis 48 Stunden.
Dieser Fall verdeutlicht eindrucksvoll, wie selbst eine vergleichsweise harmlose Intoxikation das klinische Bild schwerwiegender neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen täuschend echt nachahmen kann. Entscheidend ist eine akribische Anamnese für die korrekte Diagnosestellung – oder wie in diesem Fall die glückliche Fügung eines zweiten Patienten mit identischer Symptomatik, die das diagnostische Vorgehen fundamental veränderte.
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