Neue HIV-Medikamente auf dem Weg

Die HIV-Therapie drückt das Virus heute bis unter die Nachweisgrenze. Das Virus kann dann nicht mehr weitergeben werden. Doch HIV ist sehr variabel, weshalb das Therapieschwert beständig nachgeschärft werden muss.

Interview mit Prof. Roy M. Gulick

Neueste Entwicklungen in der HIV-Therapie

Braucht es einen neuen NRTI?

Mit Islatravir (ISL) wird aktuell ein neuer nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NRTI) entwickelt, der eine mittlere Halbwertszeit im Blut von etwa 50–60 Stunden hat. Interessant ist vor allem die breite Wirksamkeit gegen HIV-1, HIV-2 sowie MDR-Stämme. Darüber hinaus eignet sich ISL für Niedrigdosierungen und für parenterale Applikationen. Kombinationstherapien mit ISL und die Verwendung des neuen NRTI in Langzeittherapieansätzen werden getestet.

Insbesondere die Wirksamkeit gegen eine Reihe multiresistenter HIV-Stämme macht ISL für die moderne ART interessant. Allerdings kam es in einer Phase-2b-Kombinationsstudie im vergangenen Jahr dosisabhängig zu einer Lymphopenie. Die weitere Prüfung von ISL im therapeutischen Setting wurde deshalb vorerst gestoppt.

NNRTI aufgrund einer Lymphopenie pausiert

Auch bei den nicht-nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren gab es zuletzt einen hoffnungsvollen neuen Kandidaten mit dem wohlklingenden Namen MK-8507. Erste in vitro-Daten zeigten, dass MK-8507 insbesondere gegen einige der NNRTI-resistenten HIV-Stämme wirksam ist. Die Halbwertszeit beträgt rund 70 Stunden, was den neuen NNRTI auch für Dosierungen 1x pro Woche interessant werden lässt. Darüber hinaus verursachte MK-8507 weniger Nebenwirkungen im Bereich des ZNS.

Da es jedoch auch unter MK-8507 dosisabhängig zur Lymphopenie mit einer starken Abnahme der CD4+-Zellzahlen kam, wurde die Weiterentwicklung über die Phase 2 hinaus aktuell pausiert.

Cabotegravir – ein Stern am Therapiehimmel

Bei Cabotegravir (CAB) handelt es sich hingegen um einen bereits 2020 durch die EMA und 2021 durch die FDA zugelassenen Integrase-Inhibitor, ähnlich dem Dolutegravir (DTG). Die Halbwertszeit beträgt zwischen 21 und 50 Tagen, was CAB letztlich auch die Zulassung für die Monats- bzw. Zweimonatsspritze in der HIV-Therapie ermöglicht hat.

Aktuell wird weiter erforscht, inwieweit CAB zukünftig mithilfe spezieller Applikationsgeräte und/oder Nanotechnologie noch beständiger werden kann, um es z. B. über sehr lange Zeiträume im Körper freisetzen zu können. Wird damit eines Tages vielleicht sogar eine jährliche Dosierung der ART möglich?

Capsid-Inhibitoren – eine neue Wirkstoffklasse

Die meisten der in der HIV-Therapie eingesetzten Medikamente hemmen die Reverse Transkriptase des HI-Virus oder verhindern, dass das Virusgenom erfolgreich in die Wirtszellen eingebaut werden kann. Die Capsid-Inhibitoren greifen nun an einem ganz anderen Ort des Lebenszyklus der Viren an.

Das Capsid ist – vereinfacht gesprochen – der Behälter des Viruspartikels, in dem sich das virale Genom befindet. Das Capsid dringt im Falle des HI-Virus bis in den Zellkern der Wirtszelle vor und wird dort aufgelöst, um das Genom freizusetzen. Auf der anderen Seite bildet sich das Capsid neu am Ende der Virusreplikation und Freisetzung, um die viralen Genome der nächsten Virusgeneration sicher einzuschließen. Die Capsid-Inhibitoren hemmen sowohl den Eintritt des Capsids in den Zellkern als auch die Virusreifung und die damit zusammenhängende Capsidbildung.

Lenacapavir (LEN) verfügt über eine Halbwertszeit von etwa 30–43 Tagen und eignet sich sowohl für die orale als auch die subkutane Applikation. Nach Abschluss der entsprechenden Phase-II/III-Studien befindet es sich aktuell seit Juni 2022 bei der FDA im entsprechenden Zulassungsverfahren für den Einsatz in der modernen MDR-HIV-Therapie. Von der EMA gab es am 23. Juni 2022 bereits eine positive CHMP-Bewertung für LEN in Europa zum Einsatz insbesondere bei multiresistenten HIV-Stämmen.

Breit neutralisierende Antikörper (bnAb)

Seit einigen Jahren wird zudem alternativ zur HIV-Impfung an sogenannten breit neutralisierenden Antikörpern geforscht. Diese verfügen über eine breit angelegte antiretrovirale Aktivität und scheinen zudem einen „Impfeffekt“ zu besitzen, indem sie die Immunabwehr anregen und verbessern. Das Konzept wird ebenso in Kombinationsstudien und Phase-I/II-Studien untersucht. Mittelfristig geht es jedoch in erster Linie darum, die Halbwertszeit der Antikörperpräparate zu erhöhen und deren Virusspezifität zu verbessern. Das ideale „bnAb-Medikament“ besteht dann in Zukunft aus einer Vielzahl hochspezifischer Antikörper, die gemeinsam eine große Bandbreite der Variabilität des HI-Virus abdecken und die Viren auf diese Weise daran hindern, Zielzellen zu infizieren, freigesetzt zu werden oder Virus-Reservoire zu bilden.

Was ist für die aktuelle Praxis wichtig?

Quelle:
Gulick RM. New drugs for HIV: What is on the horizon? Prime Session PR11 Long acting treatment: Game changer or white elephant?, AIDS 2022, Montreal (Canada)