MS: Migräneattacke von neuem Schub unterscheiden

Eine Koexistenz von Multipler Sklerose und Migräne wird zunehmend häufiger berichtet und kann das Management knifflig machen.

Migräne und MS werden oft von Depressionen begleitet

Wie häufig ist ein gemeinsames Auftreten von Migräne und MS?

Migräne ist schon in der Allgemeinbevölkerung häufig: bei den unter 50-Jährigen ist sie die führende Ursache für Behinderung2 und in Deutschland leiden geschätzt insgesamt 14,8% der Frauen und 6% der Männer unter Migräne.3
Bei Menschen mit MS liegt die Gesamtprävalenz primärer Kopfschmerzerkrankungen höher als in der Allgemeinbevölkerung. Eine Metaanalyse von 2021 mit Daten von 3.560 MS-Kranken aus 16 Studien schätzte diese auf 56%, wobei Migräne (gesamt 27%, ohne/ mit Aura: 16% resp. 10%) und Spannungskopfschmerzen (10%) vorherrschend waren.4 Da MS bei Frauen zwei bis drei Mal häufiger auftritt als bei Männern, war die Studienpopulation hier allerdings nicht ausgeglichen hinsichtlich der Geschlechter (2,6-mal so viele Frauen wie Männer), was ebenfalls zu einer erhöhten Migränehäufigkeit beitragen könnte. 

Darüber hinaus gibt es Hinweise auf mögliche gemeinsame pathophysiologische Mechanismen. So scheinen kortikale und Hirnstammläsionen bei MS mit einer Häufung von Migräne einherzugehen, ebenso wie B- und T-Zell-Aktivierung.Ein gemeinsames Auftreten von Migräne und MS stand in Studien außerdem in Zusammenhang mit niedrigeren Vitamin-D-Spiegeln, höherem oxidativen Stress und niedrigeren Leveln antioxidativer Enzyme sowie höheren hs-CRP-Konzentrationen.5

Abgrenzung anhand Anamnese und klinischer Präsentation

Einen ersten Anhalt gibt die gründliche Abfrage der Symptome. Eine unilateral schmerzhafte Optikusneuritis, ein fokales supratentorielles, zerebelläres oder Hirnstammsyndrom oder eine inkomplette Myelitis sollten hellhörig auf einen MS-Schub werden lassen.6 Eine Migräne mit Aura äußert sich dagegen möglicherweise mit visuellen Skotomen, migratorischen Parästhesien oder dysphasischer Sprache in Verbindung mit bzw. gefolgt von migräneartigen Kopfschmerzen. Bestehen die Symptome für einen Tag bis zu einem Monat, lässt dies eher an einen MS-Schub denken. Die Dauer der Aurasymptomatik liegt typischerweise zwischen wenigen Minuten und einer Stunde (die gesamte Migräneattacke mit Pro- und Postdromalphase kann natürlich bis zu mehreren Tagen anhalten, gemeint ist hier wirklich die Aura). 

Auch die typischen Auslöser können einen Hinweis geben. Infektionen und Stress gehen häufig einem Wiederauftreten von MS-Krankheitsaktivität voraus. Als Faktoren, die hingegen die Migräneschwelle senken, gelten klassischerweise Verschiebungen des Schlafrhythmus, bestimmte Lebensmittel, Wetterumschwünge, Menstruation und Neonlicht. Einige Quellen nennen jedoch Stress auch als häufigsten Migränetrigger.7

Die neurologische Untersuchung vervollständigt den Eindruck: mit Ausnahme der hemiplegischen Migräne, die eine seltene Sonderform darstellt, werden sich bei einer Migräne mit Aura ansonsten keine neurologischen Defizite finden – bei einem MS-Schub schon.

In Teil II wird es um das therapeutische Management und einige Caveats für die Praxis gehen, insbesondere um die Rolle der DMTs bei Migräne.

Referenzen:
1. Saloua Mrabet. Multiple Sclerosis and Migraine. The MS-Blog.
2. Steiner, T. J., Stovner, L. J., Vos, T., Jensen, R. & Katsarava, Z. Migraine is first cause of disability in under 50s: will health politicians now take notice? The Journal of Headache and Pain 19, 17 (2018).
3. Journal of Health Monitoring | S6/2020 | Migraine - RKI.
4. Wang, L., Zhang, J., Deng, Z.-R., Zu, M.-D. und Wang, Y. The epidemiology of primary headaches in patients with multiple sclerosis. Brain Behav 11, e01830 (2021).
5. Hamamcı, M. et al. Why do multiple sclerosis and migraine coexist? Multiple Sclerosis and Related Disorders 40, (2020).
6. S2k-Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS, NMOSD und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen.
7. Peroutka, S. J. What turns on a migraine? A systematic review of migraine precipitating factors. Curr Pain Headache Rep 18, 454 (2014).

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