Amblyopiebehandlung außerhalb des kritischen Zeitfensters: Ist das wirklich möglich?

4,6% der Menschen weltweit leiden unter einer Amblyopie. Eine interessante Beobachtung bei der Behandlung amblyoper Katzen und Mäuse gibt Hoffnung für die Behandlung der Amblyopie im höheren Alter.

4,6% der Menschen weltweit leiden unter einer Amblyopie. Die Amblyopie ist eine schwere Sehbehinderung, die das Resultat einer monokularen Deprivation in der frühen Entwicklungsphase sein kann. Eine Therapie ist lediglich in einer frühen kritischen Phase möglich. Die Okklusionstherapie gilt als weitgehend unwirksam, wenn sie erst nach dem 10. Lebensjahr begonnen wird.1,2 Bisher war eine Behandlung der Amblyopie in einem höheren Alter nicht möglich gewesen. Das könnte sich zukünftig jedoch ändern. Ende August hat eine Forschungsgruppe des amerikanischen Picower Instituts für Lernen und Gedächtnis in Massachusetts und der kanadischen Abteilung für Psychologie und Neurowissenschaften in Dalhousie eine interessante Beobachtung bei der Behandlung amblyoper Katzen und Mäuse gemacht. Die Ergebnisse dieser Forschungsgruppe geben Hoffnung auf die Behandlung der Amblyopie im höheren Alter. Mehr dazu im heutigen Beitrag.

In der Amblyopieforschung ist nicht alles auf den Menschen übertragbar

Zu einer Amblyopie kann es kommen, wenn im Säuglingsalter die Eingänge zum visuellen Kortex beider Augen schlecht ausgeglichen sind. Es gibt verschiedene Formen der Amblyopie. Die beiden häufigsten Ursachen sind der Strabismus und die asymmetrische Refraktion. Die schwerste Form der Amblyopie ist bedingt durch Deprivation. Gründe hierfür können eine kongenitale Katarakt oder Hornhauttrübung sein. Mittels Tierversuche an Katzen und an Affen konnte gezeigt werden wie ein vorübergehender monokularer Entzug zu einer Veränderung im primären visuellen Kortex führt und so das Sehen durch das entzogene Auge beeinträchtigen kann. Ein vorübergehendes Verschließen des anderen Auges - in einem kurzen kritischen Zeitraum - konnte diesen Prozess rückgängig machen. Mittels weiterer experimenteller Studien an Nagetieren konnten die synaptischen Grundlagen hierfür entdeckt werden. Behandlungsmethoden der Amblyopie, wie etwa die Interneuronentransplantation, konnten jedoch nicht beim Menschen angewendet werden. Auch liefern die Behandlungen, die im Nagetiermodell gut funktioniert haben, bei der Übertragung auf die Spezies Katze eher unzufriedenstellende Ergebnisse. Ein Grund hierfür ist das differenzierterer Sehsystem der Katzen. Die Ergebnisse aus den Tierversuchen bieten daher nur Anhaltspunkte für die Behandlung der humanen Amblyopie.3,4

Waren Tierversuche wirklich nötig für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn?

Wie viele Tiere ihr Leben gelassen haben für die neu erworbene Erkenntnis ist aus der Publikation nicht ersichtlich. Aktuell gibt es keine Ersatzmethode, um zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen auf physiologischer Ebene zu kommen. Daher hat die Forschungsgruppe das experimentelle Tiermodell gewählt. Das deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften schrieb im Juli 2020: "Tierversuche werden u. a. zur Erforschung von physiologischen Prozessen, zur Entwicklung von Produkten und Therapieverfahren und zur Überprüfung der Produktsicherheit durchgeführt." Im Jahr 2018 wurden "2,1 Millionen Tiere in Tierversuchen eingesetzt."5 In Deutschland versucht das Bundesforschungsministerium Ersatzmethoden für Tierversuche zu entwickeln, um die Zahl an Versuchstieren und das damit verbundene Leid zu reduzieren.6 2,1 Millionen Tiere pro Jahr ist eine große Zahl, wenn man bedenkt, wie wenig präklinisch gewonnene Ergebnisse es dann schlussendlich in die Klinik schaffen. Deutlich mehr Tiere mit deutlich mehr Leid sterben jährlich in der Nahrungsmittelindustrie. Es handelt sich um rund 763 Millionen Tiere pro Jahr. Dies geschieht ohne einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Die Verstümmelung in den Tierzuchtbetrieben erfolgt meist ohne Betäubungsverfahren.7 

2 Hypothesen gilt es im experimentellen Modell zu prüfen

In der vorliegenden Studie gab es keine alternative Methode, um die Tierversuche zu verhindern. Die Ergebnisse der Forschungsgruppe könnten in einer neuen Behandlungsstrategie für amblyope Menschen resultieren. Beim erwachsenen Menschen konnte beobachtet werden, dass es in einigen Fällen zu einer signifikanten Erholung von der Amblyopie kommt, wenn das normale (andere) Auge nach einer Verletzung oder Krankheit beschädigt oder entfernt wurde.8-14 Eine Erklärung hierfür wäre, dass im visuellen Kortex der inhibitorische Tonus des nun beschädigten nicht amblyopen Auges aufgehoben wird. Die zuvor unterschwelligen Eingaben des amblyopen Auges werden nun stärker wahrgenommen. Dies ist die Hypothese der "Beseitigung der Unterdrückung". Die Hypothese der "synaptischen Stärkung" besagt folgendes: Die Ausschaltung der Aktivität im starken Auge durch Enukleation ermöglicht, dass die visuelle Erfahrung durch das amblyope Auge zu einer langanhaltenden synaptischen Stärkung führen kann. Die Forschungsgruppe wollte herausfinden, ob es für diese Beobachtung auf synaptischer Ebene eine Erklärung gibt und prüfte diese beiden Hypothesen im experimentellen Tiermodell. Sie konnte zeigen, dass durch eine vorübergehende Inaktivierung des anderen Auges das Sehvermögen auf beiden Augen dauerhaft nach einer langzeitigen monokularen Deprivation wiederhergestellt werden kann. Wie genau die Forschungsgruppe zu diesem Ergebnis kam, erfahrt Ihr nächstes Mal im Detail.8-14

Referenzen:
1. DeSantis D. et al. (2014) Amblyopia Pediatric Clinics of North America 61:505–518.
2. Faghihi M. et al. (2017). The Prevalence of Amblyopia and Its Determinants in a Population-based Study. Strabismus. 2017 Dec;25(4):176-183. 
3. Simons K. et al. (2005). Amblyopia characterization, treatment, and prophylaxis   Survey of Ophthalmology 50:123–166.
4. Wallace D. K. et al. (2018) Amblyopia Preferred Practice Pattern (R Ophthalmology 125:105–142.
5. https://www.drze.de/im-blickpunkt/tierversuche-in-der-forschung
6. https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/alternativmethoden-zum-tierversuch-6641.php
7. https://albert-schweitzer-stiftung.de/massentierhaltung
8. Ming-fai Fong et al. (2021). Correction of amblyopia in cats and mice after the critical period, eLife (2021).
9. El Mallah M. K. et al. (2000). Amblyopia: is visual loss permanent?
10. The British Journal of Ophthalmology 84:952–956.
11. Kaarniranta K. et al. (2003). Visual recovery of the amblyopic eye in an adult patient after loss of the dominant eye. Acta Ophthalmologica Scandinavica81:539.
12. Klaeger-Manzanell C. et al. (1994). Two step recovery of vision in the amblyopic eye after visual loss and enucleation of the fixing eye. The British Journal of Ophthalmology 78:506–507.
13. Rahi J. S. et al. (2002). Prediction of improved vision in the amblyopic eye after visual loss in the non-amblyopic eye. Lancet 360:621–622.
14. Vereecken E.P. et al. (1984). Prognosis for vision in amblyopia after the loss of the good eye. Archives of Ophthalmology 102:220–224.