Die Blut-Retina-Schranke als Zielstruktur einer neuen Antikörpertherapie zur Behandlung retinaler Erkrankungen

Eine neue experimentelle Antikörpertherapie besitzt das Potenzial ophthalmologische Komplikationen eines Diabetes mellitus rückgängig zu machen. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher:innen der Universität Toronto.

Eine neue experimentelle Antikörpertherapie besitzt das Potenzial ophthalmologische Komplikationen eines Diabetes mellitus rückgängig zu machen. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher:innen der Universität Toronto. 100 Jahre zuvor war die erste biologische Therapie am selben Ort entdeckt worden. Die Forscher:innen testeten ihre innovative Antikörpertherapie sowohl in Zellkulturen als auch im Mausmodell.

Der synthetische tetravalente Antikörper stellt eine vielversprechende Behandlungsoption bei diabetischer Retinopathie und auch bei anderen retinalen Erkrankungen dar. Er ist in der Lage, Defekte der Blut-Retina-Schranke wiederherzustellen. Die Blut-Retina-Schranke ist eine physiologische Barriere, die das Eindringen von Molekülen in die Netzhaut verhindern soll. Der Wnt-Zell-Signalweg ist entscheidend für die Bildung und Aufrechterhaltung der Blut-Retina-Schranke. Im Rahmen der diabetischen Retinopathie kann es zu einer Hypoxie kommen. Diese wiederum kann zu einer Störung des Wnt-Zell-Signalweges führen. Genetische Mutationen, wie sie bei der Norrie-Krankheit vorkommen können ebenso mit einer gestörten Wnt-Zell-Signalkaskade einhergehen. Die Forschungsgruppe hat einen Katalog von synthetischen Antikörpern entwickelt, die die Wnt-Signalübertragung aktivieren können und so Defekten der Blut-Retina-Schranke entgegenwirken sollen. Mehr dazu im heutigen Beitrag.

Es geht nicht ohne die retinale Homöostase

Die retinale Homöostase erfordert eine intakte Blut-Retina-Schranke. Die Integrität der Blut-Hirn-Schranke (BHS) und der Blut-Retina-Schranke (BRB) ist die Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung unserer sensorischen Funktionen. Störungen der Schrankenfunktion, wie sie als Folge eines Schlaganfalls, der diabetischen Retinopathie, pathogener Infektionen oder neurodegenerativer Erkrankungen auftreten können können mit einer erheblichen Verschlechterung kognitiver und visueller Funktionen einhergehen.1-3 Ein bestimmter zellulärer Signalweg spielt eine ganz besondere Rolle bei der Angiogenese des Zentralnervensystems. Er ist an der Aufrechterhaltung der Endothelzellbarrierefunktion während der Entwicklung neuer Blutgefäße sowie während der postnatalen Gewebehomöostase beteiligt. Es handelt sich hierbei um den Wnt-Zell-Signalweg.4,5

Es beginnt an der Endothelzelloberfläche

Wir müssen etwas tiefer in die zelluläre Materie eindringen, um den Wnt-Zell-Signalweg und seine Funktion für die Blut-Hirn- und Blut-Retina-Schranke näher kennenlernen zu können. Der Frizzled Rezeptor FZD4 fungiert an der Zelloberfläche von Endothelzellen als Rezeptor für Norrin und WNT7A/B. Wird der Rezeptor FZD4 aktiviert zu kommt es zur einer β-Catenin-vermittelten Regulation derjenigen Gene, die für die Barrierefunktion essentiell sind.6-8 Norrin spielt eine wichtige Rolle für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der retinalen Vaskulatur. Die beiden Co-Rezeptoren LRP5 und Tetraspanin 12 (TSPAN12) sind erforderlich für die Norrin-vermittelte Signalkaskade. TSPAN12 fungiert hierbei als Signalverstärker für diese Signalkaskade.9-12

Aus zu wenig wird zu viel

Verschiedenen retinalen Erkrankungen liegen Mutationen (NDP-, FZD4-, LRP5- und TSPAN12-Mutationen) zugrunde, die mit einer Störung dieser Signalkaskade einhergehen. Zu diesen Erkrankungen gehören die Norrie-Krankheit, das Osteoporose-Pseudogliom-Syndrom und die familiäre exsudative Vitreoretinopathie. Die Hypovaskularisation und Dysgenesie der retinalen Gefäße führt zur Erblindung der betroffenen Kinder. All diese Erkrankungen gehen mit einer kongenitalen Netzhautablösung einher. Bei der familiären exsudativen Vitreoretinopathie kommt es in nächster Nähe zu den ischämischen Netzhautarealen zu einer proliferativen Gefäßneubildung.13-15

Der tetravalente Antikörper imitiert die Aktivität von Wnt-Proteinen innerhalb retinaler Endothelzellen

Eine pharmakologische Aktivierung der FZD4/βcatenin-Signalisierung in Endothelzellen stellt eine innovative Strategie zur Behandlung dieser Erkrankungen und anderen retinalen Erkrankungen dar, denen eine dysfunktionale Blut-Retina-Schranke zugrunde liegt. Ein tetravalenter Antikörper namens FLAg (Frizzled und LRP5/6 Agonist) fördert das Clustering von Frizzled und LRP5/6 Co-Rezeptoren und kann dadurch die Aktivität von Wnt-Proteinen und damit die Aktivierung der βcatenin-vermittelten Transkription imitieren.16 Die Forschungsgruppe um Rony Chidiac hat ein hochpotentes und selektives FLAg aus Antikörperfragmenten hergestellt mit dem Namen F4L5.13. Der FZD4/LRP5-Antikörper-Agonist F4L5.13 vermittelt die Aktivierung von FZD4 und LRP5. Dieser Antikörper-Agonist führt nur in denjenigen Zellen zu einer βcatenin-vermittelten Transkriptionsregulation, die sowohl FZD4 als auch LRP5 exprimieren. Die Forschungsgruppe hat in vitro und auch in vivo ihren tetravalenten Antikörper untersucht.1 


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Bildquelle: Rony Chidiac

Die Abbildung 1 zeigt uns auf der linken Seite den Wnt-Signalweg und auf der rechten Seite immhunhistochemische Bilder der Vaskulatur der Netzhaut mit und ohne Antikörpertherapie. Der tetravalente Antikörper F4L5.13 vermittelt die Aktivierung von FZD4 und LRP5 und führt so zur βcatenin-vermittelten Transkription derjenigen Gene, die für die Aufrechterhaltung der Blut-Retina-Schranke verantwortlich sind. Morphologisch ist dies erkennbar an einer geordneten mikrovaskulären Struktur im oberen rechten Bild mit der Bezeichnung F4L5.13 und einer Reduktion neovaskulärer Veränderungen im unteren rechten Bild des immunhistochemisch angefärbten Flatmounts der murinen Retina.1

In der Zellkultur hat der Antikörper die Barrierefunktion der Endothelzellen gefördert. Im Tspan12-/- Mausmodell -dieses Modell weist mehrere Merkmale der FEVR auf- ging die systemische Injektion von F4L5.13 mit der Aufrechterhaltung der Morphogenese der Blutgefäße einher und verhinderte Defekte der Blut-Retina-Schranke. In einem weiteren Tiermodell wurde die Wirksamkeit der Antikörpertherapie bei sauerstoffinduzierten Retinopathien untersucht. Hier zeigte sich eine Normalisierung der pathologischen Neovaskularisation nach Gabe des Antikörpers F4L5.13. Somit könnten zukünftig auch retinale Erkrankungen wie die Frühgeborenen-Retinopathie und diabetische Retinopathie durch diesen Antikörper therapiert werden. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass diese innovative Antikörpertherapie auch Wirksamkeit in den nachfolgenden Studien zeigt und über ein gutes Sicherheitsprofil verfügt.1

Möglicherweise legt diese wissenschaftliche Forschungsarbeit den Grundstein für die nächste Antikörpertherapie in der Augenheilkunde. 

Referenzen:
1. Rony Chidiac et al. (2021). A Norrin/Wnt surrogate antibody stimulates endothelial cell barrier function and rescues retinopathy, EMBO Molecular Medicine (2021).
2. Obermeier B. et al. (2013). Development, maintenance and disruption of the blood-brain barrier. Nat Med 19: 1584–1596.
3. Sweeney M. D. et al. (2019). Blood-brain barrier: from physiology to disease and back. Physiol Rev 99: 21–78.
4. Chang J. et al (2017). Gpr124 is essential for blood-brain barrier integrity in central nervous system disease. Nat Med 23:  450–460.
5. Wang Y. et al. (2018). Interplay of the Norrin and Wnt7a/Wnt7b signaling systems in blood–brain barrier and blood–retina barrier development and maintenance. Proc Natl Acad Sci 115:  E11827–E11836.
6. Wang Z. et al (2020). Wnt signaling activates MFSD2A to suppress vascular endothelial transcytosis and maintain blood-retinal barrier. Sci Adv 6:  eaba7457.
7. Schäfer N. F. et al. (2009) Differential gene expression in Ndph-knockout mice in retinal development. Invest Ophthalmol Vis Sci 50:  906–916.
8. Ye X. et al. (2009). Norrin, frizzled-4, and Lrp5 signaling in endothelial cells controls a genetic program for retinal vascularization. Cell 139: 285–298.
9. Luhmann U. F. O. et al. (2005). Role of the Norrie disease pseudoglioma gene in sprouting angiogenesis during development of the retinal vasculature. Invest Ophthalmol Vis Sci 46:  3372–3382.
10. Cho C. et al. (2017). Reck and Gpr124 are essential receptor cofactors for Wnt7a/Wnt7b-specific signaling in mammalian CNS angiogenesis and blood-brain barrier regulation. Neuron 95:  1221–1225.
11. Junge H. J. et al. (2009). TSPAN12 regulates retinal vascular development by promoting Norrin- but not Wnt-induced FZD4/beta-catenin signaling. Cell 139:  299–311.
12. Lai M. B. et al. (2017). TSPAN12 Is a Norrin Co-receptor that amplifies frizzled4 ligand selectivity and signaling. Cell Rep 19:  2809–2822.
13. Warden S. M. et al. (2007). The Wnt signaling pathway in familial exudative vitreoretinopathy and Norrie disease. Semin Ophthalmol 22:  211–217.
14. Baron R. et al. (2013). WNT signaling in bone homeostasis and disease: from human mutations to treatments. Nat Med 19:  179–192.
15. Gilmour D.F. et al. (2015) Familial exudative vitreoretinopathy and related retinopathies. Eye 29:  1–14.
16. Tao Y. et al. (2019). Tailored tetravalent antibodies potently and specifically activate Wnt/Frizzled pathways in cells, organoids and mice. Elife 8: e46134.