Künstliche Retina - kostbarer als Seide

Wie weit sind wir eigentlich noch entfernt von der Implantation einer funktionsfähigen künstlichen Retina? Was noch wie Zukunftsmusik klingen mag, könnte in den nächsten Jahren in unsere klinische Realität eintreten.

Wie weit sind wir eigentlich noch entfernt von der Implantation einer funktionsfähigen künstlichen Retina? Was noch wie Zukunftsmusik klingen mag, könnte in den nächsten Jahren in unsere klinische Realität eintreten. Eine Forschungsgruppe aus Madrid hat dieses futuristische Projekt in Angriff genommen und am 28. Oktober dieses Jahres ihre Ergebnisse publiziert.1 Nun fragen wir uns alle, ob es denn überhaupt machbar ist, ein so komplexes Gebilde wie die Retina nachzubauen. Haben wir denn bereits das notwendige Wissen für die Realisierung dieser Idee? Mehr dazu im heutigen Beitrag.

Der Mensch ist auf die Lebensnetze der Natur angewiesen

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kombinierten in ihrem Forschungsprojekt eine jahrtausendalte Technik mit modernster Wissenschaft. Die Larven des 38mm großen Seidenspinners legten den Grundbaustein für die Herstellung der künstlichen Retina. In vorangegangen Studien konnte gezeigt werden, dass die Retina Seidenfibroin gut toleriert. Adulte weibliche Lister Hood Ratten waren die Spenderinnen der retinalen Pigmentepithelzellen und neuronalen Zellen der Retina gewesen. Nach deren Extraktion wurden die retinalen Pigmentepithelzellen und die neuronalen Zellen in Wachstumsmedien bei 37°C inkubiert. Anschließend wurde die künstliche Retina kreiert.1

Die Seidenraupe als Wegbereiter für eine heilende AMD-Therapie

Wie bereits erwähnt, wäre das Ganze nicht möglich gewesen ohne die Larve des Seidenspinners, die hierfür ihr Leben gab. Biomimetisches Seidenfibroin diente den Wissenschaftler/-innen als Basis für die Herstellung eines Zellen-enthaltenden Biofilms. Seidenfibroin ist ein poröses und vor allem zytokompatibles Material, dessen Eigenschaften denen der Extrazellulärmatrix ähnlich sind. Der Porendurchmesser liegt bei 54 bis 532 µm. Innerhalb dieses Konstrukts ist eine Anheftung und eine Proliferation von Zellen möglich. Seidenfibroin ist durch die proteolytisch wirksamen Enzyme Chymotrypsin, Aktinase, Carboxylase und Protease XIV biologisch abbaubar. In einem experimentellen Mausmodell konnte ein 80%-iger Abbau des auf Seidenfibroin basierten Biofilms 4 Wochen nach Implantation in das Striatum beobachtet werden.2

Der architektonische Bauplan der künstlichen Retina

Die Implantation der künstlichen Retina in ein Auge erfordert hohes chirurgisches Geschick sowie ein neuroprotektives Umfeld für den postoperativen Heilungsprozess. Der kleinste postoperative Entzündungsreiz kann mit einer Reduktion des Zellüberlebens innerhalb der künstlichen Retina einhergehen. Das Grundgerüst der künstlichen Retina besteht aus schützendem Seidenfibroin. Die neuroprotektiv wirkenden mesenchymalen Stammzellen und Müller-Zellen sind in dieses Grundgerüst eingebettet. Sie beeinflussen die Mikroumgebung nicht nur durch die Sekretion von Zytokinen, sondern sorgen auch für Stabilität innerhalb dieses dreidimensionalen Konstrukts aus Seidenfibroin-Biofilmen und Zellen. Die künstliche Retina kann man sich wie ein zylindrisches Gebilde aus Seidenfibroin-Biofilmen und Zellen vorstellen. Hierbei enthält der erste Biofilm mesenchymale Stammzellen, der zweite retinale Pigmentepithelzellen, der dritte Müller-Zellen und neuronale Zellen und der vierte erneut mesenchymale Stammzellen. Zwischen den einzelnen Seidenfibroin-Biofilmen stehen die Zellen miteinander in Kontakt.1

Der nächste Schritt wäre die Implantation dieser künstlichen Retina in ein Auge. Es ist jedoch noch ein langer Weg, bis diese innovative Heilungsoption in unseren klinischen Alltag treten darf.

Referenzen: 
1. Jemni-Damer N. et al (2020). First steps for the development of silk fibroin-based 3D biohybrid retina for age-related macular degeneration (AMD). J. Neural Eng. 17 055003.
2. Fern ́andez-García L. et al. (2016). Safety and tolerability of silk fibroin hydrogels implanted into the mouse brain Acta Biomater. 45 262–75.