Sind aktuelle Leitlinien oft zu praxisfremd?

Kennen Sie das? Die Leitlinienempfehlungen wollen nicht so recht auf Ihre PatientInnen oder auch umgekehrt, die PatientInnen nicht auf die Leitlinie passen? – Willkommen in der täglichen Praxis. Leitlinien sind evidenzbasiert, sollen allgemein gültige Standards schaffen und so sicherstellen, dass PatientInnen überall im Land die gleiche hochwertige Behandlung erhalten können. Doch was ist, wenn beim Streben nach immer höheren Evidenzgraden, der eigentliche Patient / die Patientin zunehmend aus dem Blick gerät?

Kennen Sie das? Die Leitlinienempfehlungen wollen nicht so recht auf Ihre PatientInnen oder auch umgekehrt, die PatientInnen nicht auf die Leitlinie passen? – Willkommen in der täglichen Praxis. Leitlinien sind evidenzbasiert, sollen allgemein gültige Standards schaffen und so sicherstellen, dass PatientInnen überall im Land die gleiche hochwertige Behandlung erhalten können. Doch was ist, wenn beim Streben nach immer höheren Evidenzgraden, der eigentliche Patient / die Patientin zunehmend aus dem Blick gerät?

In den vergangenen Jahren machte die Urologie gleich mit einer Vielzahl von S3-Leitlinien auf sich aufmerksam. Im aktuell laufenden Jahr 2019 erwarten wir zudem die erste Leitlinie in Deutschland überhaupt zum Thema “Peniskarzinom”, welche im Herbst bis Ende des Jahres als S3-Leitlinie erscheinen wird. Mittlerweile müssten jedoch z. B. die S3-Leitlinien Nierenzellkarzinom und Blasenkarzinom beinahe in einem jährlichen Turnus ergänzt und erweitert werden. Grund dafür sind die rasanten Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Immunonkologie.

Allerdings gibt es bei all den Erwartungen und Erfolgen auch Schattenseiten. So kennen nach wie vor nicht alle UrologInnen in Deutschland die Leitlinien, und diejenigen, die sie kennen, folgen ihnen, wie im Falle der S3-Leitlinie “Unkomplizierte bakterielle ambulant erworbene Harnwegsinfektionen”, längst nicht immer. Was läuft hier also schief?

Das ewige Leid mit der Leitlinienadhärenz

Eine aktuelle Umfrage-Studie, die unlängst in Der Urologe veröffentlicht wurde, versucht nun, die Sachlage zu analysieren und Lösungen für eine bessere Leitlinienadhärenz anzubieten.

Dabei fällt auf, dass von den insgesamt befragten 307 UrologInnen etwas mehr als ein Drittel (34%) sich überhaupt nur in 80% der Fälle an der S3-Leitlinie “Unkomplizierter Harnwegsinfektionen” orientiert. Zudem ist diese Leitlinie überhaupt nur rund 72% der KollegInnen bekannt.

Die fehlende Leitlinienadhärenz hat dabei ihre Gründe auf beiden Seiten des Konsultationstisches, also bei ÄrztInnen ebenso wie bei PatientInnen. Für ÄrztInnen stehen insbesondere die persönliche Erfahrung (23%) sowie mangelnde Anwendbarkeit der Leitlinienempfehlungen auf einen jeweiligen Patienten / eine Patientin (22%) im Vordergrund, weshalb die Leitlinie nicht zu 100% befolgt wird. Weitere Faktoren sind sicher die knappe Zeit (19%) und der große Seitenumfang so mancher Leitlinie.

PatientInnen auf der anderen Seite werden von schlechten Vorerfahrungen mit einem Medikament (27%), von der Angst vor Nebenwirkungen (26%) sowie von ungenügender Information (23%), ihre Erkrankung betreffend, in ihrer Leitlinienadhärenz beeinflusst. Fast jeder zehnte Patient führt zusätzlich eine schlechte Kommunikation zwischen Arzt und PatientInnen an.

Über den Tellerrand – Sprechende (und erklärende) Medizin

Das Problem der fehlenden Leitlinienadhärenz ist selbstverständlich kein reines Urologieproblem. Auch in anderen Fachdisziplinen der Medizin regt sich Unmut über den Nutzen von rein evidenzbasierten Leitlinien in der täglichen Praxis. Die Schmerzmediziner sahen sich sogar unlängst dazu veranlasst, ein Thesenpapier zu diesem Thema zu verabschieden, welches die PatientInnen sowie deren individuelle Voraussetzungen und Wünsche als Gegengewicht zur reinen Statistik und Evidenz betont.

Doch so einfach, wie es sich anhört, ist es für viele nicht, denn Kommunikation und Patientenwunsch sind (noch) nicht Teil des Medizinstudiums oder zumindest deutlich unterrepräsentiert. Eine offene und empathische Gesprächstechnik ist jedoch erlernbar und fördert am Ende nicht allein nur die Arzt-Patienten-Beziehung, sondern ebenso die Therapie-Compliance.

Ärztinnen und Ärzte sollten im Umgang mit PatientInnen realisieren, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was der Arzt / die Ärztin sagt, sondern darauf, was am Ende beim Patienten / bei der Patientin ankommt. Dabei geht es keineswegs nur um die Worte oder Gesprächsinhalte. Nonverbale Kommunikation und Missverständnisse auf beiden Seiten sind die Killer einer jeden Gesprächs. Begegnen Ärzte ihren PatientInnen offen, wertschätzend und mit angstnehmender Zuwendung, so verbessert dies die Therapie nachweislich. Andererseits fördern Unsicherheit, Ängste und die Resignation vor zu vielen unverständlichen Informationen die Chronifizierung von Symptomen oder Erkrankungen.

Praxis-Tipp: Wichtig ist vor allem, die PatientInnen umfassend mit einfachen Worten aufzuklären und ihnen dabei empathisch zu begegnen. Denn etwa 54% der PatientInnen in Deutschland verfügen über eine mangelhafte Gesundheitskompetenz, 41% verstehen nicht, was der Arzt / die Ärztin ihnen gerade erklären will. Arbeiten Sie daher möglichst mit kleinen und einfachen Schaubildern, um die Patientenkompetenz zu fördern. Ein solches Vorgehen wird mittlerweile auch von vielen medizinischen Fachgesellschaften empfohlen und soll zukünftig die Grundlage für die Leitlinienerstellung mit eigenem Anhang “Patienteninformation” oder sogar weiteren eigenständigen Patientenleitlinien sein.

Wie es in Zukunft besser laufen könnte

Abgeleitet aus diesen Zusammenhängen und den Antworten auf die initiale Umfrage unter 307 Urologinnen und Urologen in Deutschland können folgende Schlüsse für die zukünftige Leitlinienarbeit gezogen werden:

Fazit 

Zukünftig wird es noch mehr Interdisziplinarität bei der Leitlinienerstellung und noch mehr Patientenbeteiligung geben müssen. Dies erinnert uns stets an einen Satz, der die gesamte Problematik so treffend zusammenfasst und der uns sinngemäß von einem der vergangenen Kongresse, die wir besuchten, im Gedächtnis geblieben war: “Würden wir einen Patienten / eine Patientin nur noch streng nach den Leitlinien der einzelnen Medizinfachbereiche behandeln, würde er / sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Schaden nehmen.”

Daran zeigt sich, Leitlinien sind wichtig, um Standards zu bilden und um die Qualität in der Versorgung zu sichern. Jedoch sollten Leitlinien nicht als die in Stein gemeißelten zehn Gebote von höherer Stelle wahrgenommen werden. Es sind Leitlinien, sie sollen also eine Therapieentscheidung leiten oder lenken, aber dies entbindet selbstverständlich keinesfalls davon, auch eigene Erfahrungen und die oft komplexe Situation von PatientInnen zu berücksichtigen – Wenn der Weg zu lebendigen Leitlinien diese Punkte zukünftig mit einschließt, so wird sicher auch die Leitlinienadhärenz, sowohl auf ärztlicher als auch auf Patientenseite, zunehmen.

Sie haben eine eigene Meinung zu diesem Thema? Schreiben Sie gern einen Kommentar und diskutieren Sie untereinander. Wir freuen uns, wenn Sie Ihre persönliche Sichtweise auf die Leitlinien-Problematik mit uns und Ihren KollegInnen teilen möchten.

Quellen: 
Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.
Kranz J et al., Urologe 2019; https://doi.org/10.1007/s00120-018-0848-3