Dr. Vergano: "So weit, so gut" - Ethische Entscheidungen am Lebensende

Dr. Marco Vergano ist Anästhesist auf der Intensivstation des Krankenhauses San Giovanni Bosco in Turin.

   

Die esanum Global Series

... ist eine Sammlung von Artikeln, die esanums deutsch-, italienisch-, englisch- und französischsprachige Redaktion zusammenbringt, um eine globale Perspektive auf die aktuellen Themen und Geschichten zu bieten, die das Leben von Ärzten beeinflussen.

In unserer zweiten Beitragsserie "Begleitung am Lebensende | End-of-Life Care" interviewen wir Ärztinnen und Ärzten, die sich mit dem Thema Sterben beschäftigen und Menschen am Ende ihrer Lebensphase begleiten. In allen Interviews, die wir führten, wurde betont, wie wichtig es ist, sich diesem Thema anzunehmen, denn die Begleitung von Menschen am Lebensende ist eine der menschlich anspruchsvollsten Aufgaben von Ärzten und erfordert oft Entscheidungen, die nicht einfach zu treffen sind.

Die Interviewserie ist eine Kollaboration der Redaktionsteams von esanum.de, esanum.fresanum.it und esanum.com. Die jeweiligen Artikel bilden die Perspektive unserer Interviewpartnerinnen und -partner ab und stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion dar. Durch Übersetzungsprozesse kann es zu Einbußen im sprachlichen Ausdruck kommen, die im jeweiligen Original nicht vorhanden sind.

Wann ist das Leben zu Ende?

Übersetzt aus dem Italienischen

Dr. Vergano, was ist mit dem Lebensende gemeint?

Der Begriff "Lebensende" wird in der Wissenschaft unterschiedlich definiert. Für manche gilt ein Mensch als im Sterben liegend, wenn dieser infolge einer sicheren Diagnose mit schlechter Prognose eine Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten hat. Für andere ist ein Sterbender jemand, der eine viel kürzere Lebenserwartung hat, nämlich im Bereich weniger Stunden oder Tage. Abgesehen vom zeitlichen Rahmen, also Stunden, Tage oder Wochen, ist das Lebensende intuitiv zu verstehen: Es bezeichnet den letzten Lebensabschnitt eines Menschen, der an einer fortgeschrittenen, unheilbaren Krankheit oder an einem Zustand leidet, bei dem sich die Prognose verschlechtert und schließlich zum Tode führt.

Nehmen Ihrer Erfahrung nach alle Ärzte das Lebensende ähnlich wahr?

Meiner Meinung nach unterscheidet sich das von Arzt zu Arzt. Da jede Fachärztin und jeder Facharzt in einem anderen Bereich tätig ist, machen sie dort auch unterschiedliche Erfahrungen. Manche haben aufgrund ihrer Fachrichtung nur selten mit dem Tod eines Menschen zu tun. Andere wiederum arbeiten in einem Bereich, in dem das Lebensende sehr viel präsenter ist. Es gibt also durchaus einige Unterschiede in der Wahrnehmung, die sich wiederum aus unterschiedlichen beruflichen Hintergründen ergeben. Onkologen und Reanimationsmediziner müssen sich oft mit dem Lebensende ihrer Patienten befassen, aber sicherlich ist ihre Wahrnehmung eine andere.

Was bedeutet das Lebensende für Menschen wie Sie, die auf der Intensivstation arbeiten?

Bei den meisten Patienten auf der Intensivstation ist der Zustand sehr kritisch und der Ausgang der Behandlung oft ungewiss. Einige haben bessere Aussichten auf Genesung, andere hingegen weniger, aber alle befinden sich in einer potenziell lebensbedrohlichen Lage. Die Intensivmedizin unterstützt alle lebenswichtigen Funktionen mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und versucht, ein Organversagen zu verhindern.

Im Gegensatz zu anderen Fachgebieten ist die Zeit bei uns aber viel knapper bemessen. Unsere Patienten bleiben nur wenige Tage im Krankenhaus, selten länger als zwei Wochen. Wenn die Therapie bei einem Krebspatienten nicht anschlägt und die Krankheit fortschreitet, wird der Patient wochen- oder monatelang auf seinem Weg zum Sterben begleitet. Dagegen hat ein Intensivpatient in kritischem Zustand, der nicht auf die Behandlung anspricht und dessen Vitalfunktionen nicht mehr künstlich aufrechterhalten werden können, nur eine sehr kurze Lebenserwartung. Wir sprechen hier von ein paar Stunden, höchstens ein paar Tagen.

Patienten auf dem Fließband

Ergeben sich aus den unterschiedlichen Vorstellungen über das Lebensende unter den Fachärzten auch Probleme bei der Behandlung der Patienten? 

Die Situation ist sicherlich sehr vielschichtig und es spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Aber es ist nicht ungewöhnlich, dass es angesichts eines gebrechlichen 95-jährigen Patienten mit einem akuten Vorfall, chronischen Begleiterkrankungen und einem eingeschränkten Funktionsstatus diejenigen Stimmen gibt, die alle Ressourcen in die Behandlung dieses Patienten investieren wollen, und zugleich diejenigen, die ihn lieber bis zum Tod begleiten wollen. Viele Kollegen haben sicherlich das Bild des Reanimationshelfers im Kopf, der andere Fachärzte zurückhält, die für einen Patienten Zugang zur Intensivpflege fordern. Aber manchmal sind es die Intensivmediziner selbst, die die Mittel der Intensivpflege nicht angemessen nutzen.

Wir müssen viel mehr über die Notwendigkeit der Pflege, die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen und über Lebensqualität sprechen. In den letzten Jahren tauchte in diesem Zusammenhang immer wieder ein Bild in der medizinischen Fachliteratur auf: Auf einem Fließband folgt ein Patient einem vorgeschriebenen Weg ohne jegliche Unterbrechung1. Ich habe eben den 95-jährigen Patienten erwähnt, der wegen eines Schlaganfalls, einer Lungenentzündung oder eines anderen akuten Problems in die Notaufnahme kommt und dort auf das Fließband gerät, das ihn über Blutuntersuchungen, bildgebende Verfahren, diverse Konsultationen und so weiter bis auf die Intensivstation oder vielleicht sogar in den Operationssaal befördert. All das läuft automatisch ab, ohne dass jemand darüber nachdenkt, inwieweit es angemessen und verhältnismäßig ist, alles für diesen Patienten zu tun und alle Ressourcen zu mobilisieren. Wie sieht es mit der Lebensqualität des Patienten aus, nachdem er sich einer umfangreichen diagnostischen und therapeutischen Behandlung unterzogen hat? Mitunter verlängert der unangebrachte Aufenthalt eines wahrscheinlich sterbenden Patienten auf der Intensivstation nur einen qualvollen Leidensweg, indem Maßnahmen ergriffen werden, die in keinem Verhältnis zum nahenden Lebensende stehen. Dieses Fließband lässt sich nur schwer wieder verlassen. Oft wird erst einige Tage später klar, dass jemand die Intensivpflege oder die Operation nicht überleben wird. Zu spät wird uns deutlich, dass wir sein oder ihr Lebensende nur unnötig hinausgezögert und dem Patienten damit wahrscheinlich nichts Gutes getan haben.

Als Ärzteschaft sollten wir lernen, innezuhalten und uns die Frage zu stellen: Was ist das Beste für den Patienten? Das muss kollegial zwischen den verschiedenen Fachärzten besprochen werden, ohne dabei die Verantwortung nur einem einzigen zu übergeben. Wenn möglich, sollten wir auch mit dem Patienten oder seinen Angehörigen darüber besprechen. Neben einer unbedingten Intensivtherapie können sich noch ganz andere Optionen ergeben. Für einige mag eine beginnende Palliativversorgung der bessere Weg sein, andere legen vielleicht lieber eine Belastungsgrenze fest, über die hinaus eine Fortführung der Behandlung nicht in Frage kommt. 

Wie können Ärzte ihre Herangehensweise an das Sterben verbessern?

Es tut sich bereits einiges. Heute gibt es im Vergleich zu früheren Jahren ermutigende Entwicklungen. Ein Großteil der Arbeit muss in den Bereichen Ausbildung, Kommunikation und Erfahrungsaustausch geleistet werden. In einer idealen Welt arbeiten die verschiedenen medizinischen Verbände, wissenschaftlichen Gesellschaften und die Hochschulwelt zusammen und erarbeiten einen gemeinsamen Rahmen für den Umgang mit dem Ende des Lebens. Wir müssen einen einheitlichen Weg finden und Raum für gemeinsame Momente schaffen, in denen die verschiedenen Fachleute ihre Entscheidungen und Überlegungen zur Angemessenheit von Behandlungen miteinander austauschen können. Die Situation in Italien ist heute keineswegs einheitlich. 

Im Jahr 2013 veröffentlichte die SIAARTI (Società Italiana di Anestesia Analgesia Rianimazione e Terapia Intensiva: Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Wiederbelebung und Intensivpflege) mit anderen wissenschaftlichen Fachgesellschaften ein Dokument mit dem Titel Grandi insufficienze d'organo end stage (Dt.: Schweres Organversagen im Endstadium). An diesem interdisziplinären Dokument waren Ärzte und Krankenschwestern, Notfallmediziner, Nephrologen, Kardiologen und Allgemeinmediziner beteiligt. Es beschreibt Entscheidungsverfahren, die einige Krankenhäuser bereits in ihre Abläufe integriert haben. Das Papier war der erste Versuch, eine Reihe von Fachleuten zu versammeln und gemeinsam zu erklären, dass man sich bei einem Menschen mit Organversagen und geringen Heilungsaussichten vor der Therapie fragen sollte, ob sie unbedingt und nur, weil sie zur Verfügung steht, auch zur Anwendung kommen muss oder ob sich der Mensch möglicherweise am Ende seines Lebens befindet und deshalb ein anderer Weg angebrachter wäre.

Nicht delegieren, sondern schwierige Entscheidungen gemeinsam treffen 

Wenn Ressourcen zur Verfügung stehen, ist ihr adäquater Einsatz wichtig. Unerlässlich wird er, wenn sie nicht verfügbar sind, wie es in Italien Ende Februar 2020 angesichts der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus der Fall war. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte SIAARTI ein Dokument2 mit klinisch-ethischen Empfehlungen, das von den Publikumsmedien aufgegriffen wurde und für viel Aufsehen und Kritik an den Ärzten sorgte. Sie waren einer der Herausgeber des Artikels. Was veranlasste die Öffentlichkeit Ihrer Meinung nach zu der Empörung?

Die SIAARTI-Empfehlungen vom März 20203 wurden in Italien stark instrumentalisiert, insbesondere auf politischer Ebene. In anderen Bereichen wurden sie ganz anders aufgenommen. Auf internationaler Ebene und in Wissenschaftskreisen fanden sie allgemeine Zustimmung und wurden von vergleichbaren Erfahrungen untermauert.

Das Papier enthielt keine neuen Informationen. Es ist seit Jahren bekannt, dass bei einem schweren Katastrophenfall, bei dem ein Ungleichgewicht zwischen den benötigten und den tatsächlich vorhandenen Ressourcen besteht, auch außergewöhnliche Kriterien angewendet werden müssen. 

In der medizinischen Fachliteratur waren die Kriterien bereits nachzulesen, und zwar in verschiedenen Artikeln über Katastrophenmedizin, in denen von Triage und Ressourcenzuteilung in Notfallsituationen die Rede ist. Auch der italienische Kodex der Medizinethik bezieht sich im Hinblick auf Militärmedizin auf dieses Thema.4

Das mediale Erdbeben brach wohl deshalb aus, weil niemand damit gerechnet hatte, dass solche Maßstäbe in einem westlichen Industrieland wie dem unseren notwendig sein würden. Durch dieses Dokument wurde vielen Menschen bewusst, dass die Mittel nicht ausreichend waren und die wertvollen intensivmedizinischen Ressourcen gut aufgeteilt werden mussten.

Für einen Intensivmediziner ist das ein alltägliches Problem. Der Bedarf an Plätzen auf der Station ist immer größer als die verfügbaren Kapazitäten. Natürlich hängt das Limit von den Ressourcen und dem Druck ab, der auf das System ausgeübt wird. 

Es entsteht der Eindruck, dass die Gesellschaft und auch die Medizin vergessen haben, dass der Tod ein natürlicher Bestandteil des Lebens ist. Und das trifft nicht nur auf außergewöhnliche Ereignisse wie den Ausbruch der COVID-19-Pandemie zu, sondern auch auf den normalen Alltag. Offenbar wollen viele Ärzte nicht die Verantwortung dafür übernehmen, wenn sie merken, dass sich ein Patient dem Ende seines Lebens nähert. Welche Faktoren können diese Haltung beeinflussen?

Es ist menschlich, in einer schwierigen Situation die Verantwortung delegieren zu wollen. Wenn die Kollegen von der Wiederbelebung in die Krankenakte schreiben, dass keine Indikation für eine Wiederbelebung vorliegt, bedeutet das für einige Ärzte, dass sie die Last der Entscheidung nicht allein tragen müssen; selbst wenn sie wissen, dass ihr Patient keine Aussicht auf Heilung hat. Für einige bedeutet diese Haltung sicherlich auch, dass sie sich ihrer Verantwortung entledigen können. Ich glaube aber, dass die Mehrheit der Kollegen eher die Möglichkeit der geteilten Verantwortung schätzt. Auch wenn das wahrscheinlich nicht die beste Herangehensweise an ein solches Problem ist. 

Verschiedene Faktoren kommen hier zusammen. Erstens fehlt es vielen Ärzten an einer gezielten lehrplanmäßigen Ausbildung in Fragen des Lebensendes. Viele Ärzte wissen einfach nicht, wie sie einem Patienten traurige Nachrichten überbringen sollen, weil es ihnen niemand beigebracht hat. Noch immer wird Kommunikationsfähigkeit eher als eine persönliche Einstellung betrachtet und nicht als eine Fähigkeit, die es zu erwerben und zu pflegen gilt. Zum Glück gibt es heute an vielen Fakultäten entsprechende Kurse, um dieses Defizit zu beheben. So werden wir in Zukunft Ärzte haben, die nicht nur die Atemwege versorgen oder einen septischen Schock behandeln können, sondern auch die Fähigkeit besitzen, dem Patienten oder der Familie die Botschaft zu überbringen, dass sein Zustand nicht heilbar ist und dass es keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten mehr gibt.

Auch das Konzept der verteidigenden Medizin muss hier erwähnt werden. Die Furcht vor Klagen kann durchaus dazu führen, dass zu Unrecht Wiederbelebungsmaßnahmen und nicht sinnvolle Therapien durchgeführt werden. Aber auch hier kann man nicht pauschalisieren. Es gibt regionale Unterschiede, die sich aus soziokulturellen Aspekten ergeben. In Italien zum Beispiel herrscht im Süden ein allgemein größeres Misstrauen gegenüber dem Gesundheitswesen. Daher sind viele Familien eher dazu geneigt, auch mit drohendem Beharren zu fordern, dass alle zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Das Misstrauen ist groß. Die Leute fürchten, dass die Ärzte ohne Druck nicht alles tun würden, was in ihrer Macht steht. Vor diesem Hintergrund neigen Ärzte natürlich dazu, Entscheidungen so weit wie möglich an andere zu delegieren.

Dann gibt es noch diejenigen, die keine Verantwortung übernehmen wollen und ihre Komfortzone nie verlassen. Auch diese Ärzte gibt es.

Könnte ein Score-basierter Algorithmus Ärzten dabei helfen, schwierige Entscheidungen über das Lebensende zu treffen?

Es gibt bereits entscheidungsorientierte Verfahren mit Punktesystemen, einige davon sogar schon geprüft. Die einen sind nützlich, die anderen weniger. Während der COVID-19-Pandemie, vor allem während der ersten und zweiten Welle, forderten Ärzte bereits solche Punktesysteme, um  Behandlungsentscheidungen treffen und herausfinden zu können, welcher Weg eingeschlagen werden sollte. Der Charlson-Komorbiditätsindex, der SOFA-Score, kam zwar zur Anwendung, erwies sich aber für die Beurteilung des Schweregrads von COVID-19 und die Vorhersage des Sterberisikos als nicht sehr nützlich.

Punktesysteme sind zwar eine nützliche Hilfestellung, weil sie für mehr Objektivität in der Diskussion sorgen, aber sie können keine medizinischen Entscheidungsprozesse ersetzen. Ob man einen Patienten in die Intensivstation einweist oder nicht, ob man eine Behandlung abbricht oder fortsetzt, das sind keine Entscheidungen, die an einen Entscheidungsalgorithmus oder ein automatisiertes System abgegeben werden können.

Gespräche mit Ärzten und Patienten über das Lebensende

Hat es in Ihrer Erfahrung Situationen gegeben, in denen die Meinungen der Intensivmediziner hinsichtlich der Kriterien für den Zugang zur Intensivpflege sowie der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der Pflege auseinander gingen? Wenn ja, wie hat sich das auf das Arbeitsklima ausgewirkt?

Das kommt häufig vor. Es ist gut, unterschiedliche Meinungen und ein unterschiedliches Einfühlungsvermögen zu haben, denn wenn Sie in einem Umfeld arbeiten, in dem alle gleich denken, kann man leichter in die eine oder andere Richtung abdriften.

Man darf sich aber nicht auf Konflikte einlassen. Wir müssen so miteinander diskutieren, dass Meinungsverschiedenheiten zutage treten, dass wir unsere Positionen begründen und argumentieren und dass wir zu einer gemeinsamen Strategie finden, die im Interesse aller Beteiligten liegt. Ein gutes Arbeitsklima auf einer Intensivstation, in dem jede Meinung und jedes Gefühl offen zur Sprache gebracht werden darf, ohne dass sich jemand beleidigt, verurteilt oder in die Enge getrieben fühlt, ist die Voraussetzung für die bestmögliche Behandlung der Patienten, insbesondere wenn es um das Lebensende geht.

Wenn es dieses Arbeitsklima nicht gibt, wenn sich keine Meinungen herausbilden, wenn es keine konstruktive Debatte gibt, wenn jeder auf seinem eigenen Standpunkt verharrt, dann besteht die Gefahr, dass auf den Patienten unterschiedlichste therapeutische Strategien angewandt werden, je nachdem, wer gerade Dienst hat. Das ist natürlich keine gute Vorgehensweise. Das führt nur zu Schwierigkeiten und Leid für den Patienten, zu Frustration bei den Pflegern und zu Verwirrung und Misstrauen bei den Angehörigen, die nicht genau verstehen, wie es weitergeht. 

Gibt es innerhalb der Krankenhäuser oder zwischen Krankenhaus- und niedergelassenen Ärzten multidisziplinäre Arbeitsgruppen, die sich mit der Betreuung von Patienten am Lebensende befassen?

In Italien ist das heute leider immer noch sehr uneinheitlich und kleinteilig. Ich weiß aber aus erster Hand von mehreren positiven Beispielen, bei denen Ärzte verschiedener Fachrichtungen an einem Tisch saßen und auf kollegiale Weise Meinungen und Behandlungskonzepte ausgetauscht und es auch geschafft haben, mit den Patienten und Familien effektiv zu kommunizieren. Gleichzeitig gibt es aber immer noch Situationen, in denen die genannten Aspekte dem guten Willen und der Einstellung des Einzelnen überlassen bleiben. Dazwischen gibt es mal mehr, mal weniger funktionale Umstände, die im Rahmen eines umfassenderen Projekts noch verbessert werden könnten. 

Warum wird häufig erst dann über das Lebensende gesprochen, wenn es für schwache Patienten oder ihre Familien schon fast zu spät ist? Ist es ein Tabuthema für Ärzte und Patienten?

Vor ein paar Jahren habe ich zusammen mit einigen Kollegen einen Kommentar zu einer Szene aus dem Film "Hass" geschrieben. Dort heißt es in der Eröffnungsszene: "Dies ist die Geschichte eines Mannes, der von einem fünfzigstöckigen Gebäude fällt. Während er von einem Stockwerk zum nächsten stürzt, spricht sich der Mann immer wieder Mut zu: 'So weit, so gut. So weit, so gut. So weit, so gut'. Das Problem ist nicht der Sturz, sondern der Aufprall."

In dem Kommentar ist die Rede von einem Patienten mit COPD im Endstadium, bei dem es zu einer Reihe von kritischen Vorfällen kommt, von denen er sich jedes Mal kaum erholt. "So weit, so gut" geht es bis zum Ende, also angekommen auf dem Erdboden, wenn der Patient stirbt, nachdem er seine letzten Wochen im Krankenhaus verbracht hat und dort künstlich beatmet wurde. Die Familie erschrickt. "Aber wie kann das sein? Bis gestern war er doch noch wohlauf."

Das kann natürlich nur bedeuten, dass die Verständigung mit dem Patienten und seiner Familie über die Behandlung und die Aussichten vollkommen unzureichend war.

Die gemeinsame Pflegeplanung ist eines der leistungsfähigsten Instrumente, die das Gesetz 219/2017 vorsieht, das vielen auch als DAT-Gesetz (Disposizioni Anticipate di Trattamento, zu Dt. etwa: Patientenverfügung) bekannt ist.

"In der Beziehung zwischen Patient und Arzt [...] kann im Hinblick auf die sich entwickelnden Folgen einer chronischen und einschränkenden Krankheit oder einer solchen, die durch eine nicht aufzuhaltende Progression mit einer ungünstigen Prognose gekennzeichnet ist, ein gemeinsamer Behandlungsplan zwischen dem Patienten und dem Arzt aufgestellt werden, an den sich der Arzt und das Behandlungsteam halten müssen, sollte sich der Patient in einem Zustand befinden, in dem er nicht in der Lage ist, seine Zustimmung zu geben oder handlungsunfähig ist."5

Dieser Aufruf ist außerordentlich wichtig, denn wenn man die Diagnose eines aggressiven Tumors oder einer neurodegenerativen Erkrankung stellt, also eine Diagnose mit einer sehr wahrscheinlich düsteren Prognose, ist eine angemessene Kommunikation und Aufklärung des Patienten und seiner Familie über den Behandlungsweg und die Erfolgsaussichten von entscheidender Bedeutung.

Liegt eine solche Grundlage nicht vor, muss sich der Arzt, häufig der Intensivmediziner, mit einer Situation auseinandersetzen, die bereits dem Aufschlag gleichkommt. "Aber wie? Bis gestern war er in bester Verfassung."

Welche Rolle sollten die Hausärzte in diesem Zusammenhang spielen?

In Italien spielen die Hausärzte heute kaum eine Rolle bei der Aufklärung und Kommunikation über das Lebensende. Das Durchschnittsalter der Allgemeinmediziner ist hoch. Viele haben vor 30 oder 40 Jahren studiert und sich während ihrer Ausbildung nie mit diesen Themen auseinandergesetzt. Natürlich haben etliche eine Weiterbildung gemacht, aber viele andere eben nicht.

Dagegen haben Kollegen, die in den letzten Jahren Allgemeinmediziner geworden sind, eine strukturiertere Ausbildung auch im Bereich der Bioethik absolviert und Kurse in Palliativmedizin und Kommunikationsarbeit belegt. Ich gehe davon aus, dass die neue Generation die Lücken schließen kann. 

Es bedarf zwar der Schulung, aber auch gewisser Übung, um über das Ende des Lebens sprechen zu können. In Zukunft werden Vorsorge und Gesprächsroutine für Ärzte und Patienten einen wichtigen Fortschritt darstellen. Heute ist das alles noch eine zusätzliche Arbeitsbelastung, die nicht alle Ärzte auf sich nehmen wollen. Die Auswirkungen auf die eigene Gefühlswelt spielen eine wichtige Rolle. Und natürlich ist es nicht einfach, mit einem Patienten mit einer chronischen und fortschreitenden Krankheit darüber zu sprechen, ob und wann es wohl schlimmer wird und welche Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn der Patient doch noch eine gute Lebensqualität und einen stabilen Gesundheitszustand hat. Der Umgang mit dem Thema ist nicht leicht für den Arzt, genauso wenig wie für den Patienten und die Familie.

In der Literatur gibt es zahlreiche Hinweise auf "difficult conversations". Doch sind sich alle Experten einig, dass sie erleichtert werden müssen, da sie sowohl den Arzt als auch den Patienten entlasten.

Die Rolle der Krankenpfleger und Nachwuchsärzte

Werden Krankenschwestern und -pfleger in die Entscheidungen von Patienten am Ende ihres Lebens einbezogen?

Ich wünsche mir, dass sich die Rolle der Pflegekräfte in Italien in diesem Bereich allmählich erweitert. Im Vergleich zu anderen Ländern hinken wir ein wenig hinterher. Innerhalb der ESICM (European Society of Intensive Care Medicine) nehmen an den Bioethik-Arbeitsgruppen, die Fortbildungskurse organisieren, viele Krankenpflegekräfte teil, und zwar sowohl unter den Vortragenden als auch bei den Kursteilnehmenden. Die Botschaft an die Pflegekräfte lautet, sich Gehör zu verschaffen.

Ihre Rolle besteht oft darin, Diskussionen innerhalb des Teams anzuregen und zu vermitteln, denn schließlich haben sie den Patienten im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand, sie kümmern sich um ihn, sie haben Kontakt mit seinem Körper. Vor allem auf der Intensivstation verbindet sie eine sehr enge Beziehung, die Ärzte nicht haben. 

Wir dürfen die Stimme derer nicht ignorieren, die stundenlang an der Seite des Patienten stehen, die seine Fortschritte oder sein Leiden miterleben. Stattdessen werden in Italien die Krankenschwestern oft den Entscheidungen anderer unterworfen, sehr zu ihrer Frustration. 

Wie werden niedergelassene Ärzte für das Lebensende ausgebildet?

Leider gibt es auch hier keinen geregelten Ausbildungsweg in Italien, sondern vieles hängt vom guten Willen der Studenten und ihrer Dozenten ab. Wenn wir Unterschiede in der Ausbildung vermeiden können, garantiert uns das in Zukunft einen homogeneren Umgang mit dem Lebensende. 

Haben Sie einen Lesetipp für angehende Ärzte, die sich noch nie mit der Thematik beschäftigt haben?

Ich empfehle Ihnen ein kleines Handbuch, mit dem Sie sich in das Thema einarbeiten können: Ethical life support. Strumenti etici per decidere in medicina (auf Italienisch). Ein prägnantes Buch auf Englisch, das sich für Ärzte ohne spezielle Kenntnisse in klinischer Ethik eignet, könnte dieses sein: Clinical Ethics: A Practical Approach to Ethical Decisions in Clinical Medicine.

Anmerkungen & Referenzen:

  1. Lesen Sie zum Beispiel: Elia F, Aprà F. Walking Away from Conveyor-Belt Medicine. N Engl J Med. 2019 Jan 3;380(1):8-9. doi: 10.1056/NEJMp1810681. PMID: 30601741.
  2. Hierbei handelt es sich um das Dokument: "Raccomandazioni di etica clinica per l’ammissione a trattamenti intensivi e per la loro sospensione, in condizioni eccezionali di squilibrio tra necessità e risorse disponibili" (zu deutsch: Klinisch-ethische Empfehlungen für die Aufnahme und den Abbruch einer Intensivbehandlung unter außergewöhnlichen Bedingungen bei einem Ungleichgewicht zwischen Bedarf und verfügbaren Ressourcen)
  3. Am 20. Februar 2020 wurde in Italien der Ausbruch von SARS-CoV-2 festgestellt, ein Virus, das nur wenige Wochen zuvor erstmals in China aufgetreten war. Das Virus verursacht COVID-19, eine Krankheit, die häufig mit schwerem akutem Atemversagen einhergeht. Die Zahl der Fälle in Italien stieg trotz der restriktiven gesundheitspolitischen Maßnahmen der Regierung kontinuierlich an. Die steigenden Fallzahlen in der Lombardei und den angrenzenden Regionen führten zu einem stetigen Anstieg der Patientenzahlen in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen. Zu diesem Zeitpunkt benötigte ein erheblicher Teil der mit COVID-19 diagnostizierten Patienten aufgrund einer interstitiellen Lungenentzündung, die durch eine schwere Hypoxämie charakterisiert war, Unterstützung bei der Beatmung. Die akute Phase der Krankheit konnte viele Tage andauern, und eine invasive oder nicht-invasive Beatmungshilfe war über Wochen erforderlich. All dies führte dazu, dass hochqualifizierte Fachkräfte für die Intensivpflege benötigt wurden. Die hohe Nachfrage führte zu einem Ungleichgewicht zwischen dem tatsächlichen Bedarf in der Bevölkerung und der tatsächlichen Verfügbarkeit von Intensivpflegeressourcen. In diesem Sinne war die Verfügbarkeit von Intensivpflegebetten eines der Hauptprobleme im Gesundheitswesen. Seit Beginn der Epidemie sind außerordentliche Anstrengungen unternommen worden, um die Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte SIAARTI am 6. März 2020 Leitlinien, die der „Katastrophenmedizin“ ähneln. Darin werden Kriterien für den Zugang zu und die Entlassung aus Intensivstationen definiert, die auch die Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit und der adäquaten Zuteilung begrenzter Gesundheitsressourcen sowie der klinischen Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der Versorgung berücksichtigen. Es wurde betont, dass nur die Patienten intensiv behandelt werden sollten, bei denen die Chancen auf einen Therapieerfolg am größten sind und die die „höchste Lebenserwartung“ haben. In diesem Sinne musste man den Bedarf an intensivmedizinischer Versorgung mit anderen Aspekten verknüpfen, einschließlich der Schwere der Erkrankung einerseits und der Schwere und Anzahl der bereits bestehenden Komorbiditäten andererseits. Für den Zugang zur Intensivpflege galt also nicht unbedingt das Prinzip „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Lesen Sie mehr zu diesem Thema: Vergano M, Bertolini G, Giannini A, Gristina GR, Livigni S, Mistraletti G, Riccioni L, Petrini F. SIAARTI recommendations for the allocation of intensive care treatments in exceptional, resource-limited circumstances. Minerva Anestesiol. 2020 May;86(5):469-472. doi: 10.23736/S0375-9393.20.14619-4. Epub 2020 Apr 3. PMID: 32242647.
  4. "[...] Um den seelisch-körperlichen Schutz des Patienten im Verhältnis zu den zur Verfügung stehenden materiellen und personellen Ressourcen zu gewährleisten, sorgt der Militärarzt für ein Höchstmaß an Humanisierung der Pflege, indem er eine Triage praktiziert, die den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt und nach dem Prinzip der 'maximalen Wirksamkeit' für die größtmögliche Anzahl von Personen handelt [...]" (Kodex der Medizinethik 2014, Art.77).
  5. Gesetz Nr. 219 vom 22. Dezember 2017 "Vorschriften über die Einwilligungserklärung und Vorkehrungen zur Behandlung". (18G00006) (GU Serie Generale Nr. 12 vom 16. Januar 2018), Artikel 5.