Ukraine: Den Blick stets nach Osten gerichtet

Kann man in einem Land im Kriegszustand von einer Zukunft sprechen? Wir fragen die ukrainische Krankenpflegerin Romanna nach ihrem Leben und der Zukunft, die sie sich vorstellt, und nach der medizinischen Betreuung, die für alle Opfer des Ukraine-Krieges unbedingt erforderlich ist.

Eine Krankenpflegerin aus Lwiw berichtet über die aktuelle Lage in der Ukraine

Übersetzt aus dem Französischen

Die ukrainische Stadt Lwiw (deutsch: Lemberg) ist mehr als tausend Kilometer von der Hölle im Donbass entfernt. Doch regelmäßig wird die vermeintliche Ruhe durch russische Raketen gestört. Dazu kommen Kriegsflüchtlinge aus dem Osten, die von der ukrainischen Physiotherapeutin Romanna Markiv im Krankenhaus medizinisch behandelt werden. Die 27-jährige lebt im Takt der Alarmsignale und arbeitet gleich in zwei ehrenamtlichen Organisationen.

Romanna: Ein Leben zwischen Stillstand und Wandel

Am 24. März kam Romannas Leben zum Stillstand, wurde aber auch gleichzeitig hektischer. Sie hatte den Krieg mit Russland kommen sehen. Eine Woche vor dem russischen Angriff bat sie ihre Eltern und ihre Schwester noch, zu Freunden nach Polen zu flüchten. Damals glaubte ihre Familie nicht daran und weigerte sich die Ukraine zu verlassen. Seither sind alle zu ihrem Großvater aufs Land geflohen, wo es etwas weniger gefährlich ist.

Romanna blieb allein zurück in Lwiw, der Großdtadt in der Westukraine nahe der polnischen Grenze. Zwar wurde sie nicht eingezogen, aber sie hat nie daran gedacht, das Krankenhaus, die Patienten oder ihre Stadt zurückzulassen. "Im Moment werde ich hier gebraucht." Auch die Raketen, die zu Beginn des Angriffs nur 300 Meter von ihrer Wohnung entfernt einschlugen und mehrere Menschen töteten, konnten sie nicht von ihrer Meinung abbringen, die medizinische Versorgung sicherzustellen. Inzwischen sind in der Umgebung von Lwiw auch Kraftwerke, Eisenbahnstrecken und Militärgebäude ins Visier genommen worden.

Romanna arbeitet als Physiotherapeutin in einer Klinik im Stadtzentrum von Lwiw. Mit 27 Jahren hat sie gerade ihre Ausbildung abgeschlossen, nachdem sie 2016 ein Krankenpflegediplom absolviert hatte. Als sie am 24. März zur Arbeit gehen wollte, erhielt sie plötzlich einen Anruf von einer Freundin. Dann heulten die Sirenen auf. Die Stadt war wie gelähmt, jeder wollte entkommen. Es dauerte Stunden, bis sie das Krankenhaus erreichte.

Lwiw: Ein Alltag im Rhythmus des Luftalarms

Wie schon vor dem Ukraine-Krieg arbeitet Romanna auf einer Palliativstation, versorgt aber auch Patientinnen und Patienten in der Reha nach Schlaganfällen oder Herzerkrankungen und nun auch Zivilisten und Flüchtlinge, die Opfer der russischen Bombenangriffen geworden sind. Auch Soldaten werden an Militärkrankenhäuser überwiesen, wo sie sich bei der Aufnahme verpflichten, keine Informationen weiterzugeben.

Was sich vor allem verändert hat, ist die Anzahl der Patienten. Das Krankenhaus ist permanent überfüllt mit Verletzten und Kranken, die aus dem Osten kommen. Dazu der ständigen Luftalarm, manchmal bis zu fünf Mal am Tag. Die Klinik liegt weit entfernt von militärischen Einrichtungen und wurde bisher noch nicht bombardiert. Doch es gibt klare Anweisungen: das medizinische Personal hat zehn Minuten Zeit, um alle Patienten in den Keller zu evakuieren. Und es ist jedes Mal derselbe Ablauf: Zuerst die körperlich belastbaren Patienten und die Rollstuhlfahrer, die ihre Infusionsständer und Sauerstofftanks hinter sich herziehen, und dann die bettlägerigen Patienten.

An ihren freien Tagen geht Romanna wieder ins Krankenhaus, um als Freiwillige die medizinischen Hilfsgüter zu verteilen, die in Lastwagen ankommen. Im Eiltempo entlädt sie Materialien und Medikamente, inventarisiert, verpackt neu, lädt auf andere LKWs um, die dann zu anderen ukrainischen Krankenhäusern fahren. Sie musste unser Gespräch verschieben und entschuldigte sich: "Da kamen LKWs an und fuhren nach Charkiw zurück. Uns blieben nur ein paar Stunden, um alles zu erledigen."  

"Diese Umarmungen werden sie nicht mehr bekommen"

Immer mehr Kriegsverletzte, Kriegsflüchtlinge, Patienten, Alarme... Doch für Romanna ist die Arbeit im Krankenhaus nicht das Härteste. Sie engagiert sich in einem Verein zur Betreuung von Kleinkindern, von denen die ältesten sechs Jahre alt sind. "Wenn sie aus dem Zug steigen, mit ihren verlorenen Blicken, weiß ich genau, was sie brauchen. Sie brauchen die Umarmung ihrer Eltern. Doch diese Umarmungen werden sie nicht mehr bekommen."

Jede Woche kümmert sich der Verein um 80 Waisenkinder. Sie müssen betreut, ernährt und eingekleidet werden. Romanna holt die bedürftigen Kinder mit dem Krankenwagen ab. Dann beginnt die Tour durch die Krankenhäuser, um ein freies Bett für sie zu finden. Anschließend versucht sie, Kleidung und Windeln aufzutreiben.

Kann man in einem Land im Kriegszustand von einer Zukunft sprechen? Wir fragen Romanna nach der Zukunft, die sie sich vorstellt, und sie spricht als erstes über die psychologische Betreuung, die für alle Opfer unbedingt erforderlich ist, für die Waisen, für die Märtyrer von Butscha, für die Einwohner von Mariupol, "die wochenlang in Schutzräumen neben Leichen ausharrten, weil es keine Möglichkeit gab, sie herauszubringen."

Über tausend Kilometer von der Hölle im Donbass entfernt müht sich Romanna Markiv in der scheinbar friedlichen Stadt Lwiw ab. Unaufhörlich richtet sich ihr Blick nach Osten. Dort sieht sie ihre Zukunft. Sie steht auf einer Warteliste, um sich ihren Kollegen anzuschließen, die bereits in die Krankenhäuser in den verwüsteten Gebieten der Ukraine entsandt wurden. Zahlreiche ihrer Freunde, die in den Krieg gezogen sind, melden sich seit Wochen nicht mehr. "Sie sind wahrscheinlich tot."