Kasuistik: Akute Halluzinationen bei einem vermeintlich “mustergültigen“ Teenager

Ein Teenager kommt mit Verwirrtheit und visuellen Halluzinationen in die Notaufnahme. Negative Laborwerte und Ergebnisse aus der Bildgebung erschweren die Suche nach der zugrunde liegenden Ursache. Was steckt dahinter?

Fallpräsentation (03:00 Uhr)

In der Nacht von Samstag auf Sonntag wird Mark, ein 17-jähriger, zuvor gesunder Jugendlicher, von seinen Eltern in die Notaufnahme gebracht. Sie waren gerade von einem Theaterbesuch zurückgekommen und fanden ihn zu Hause in einem Zustand akuter Erregung, Verwirrung und mit unzusammenhängenden Äußerungen vor. Sie berichten von einem einzigen Erbrechen früher in der Nacht.

Während sie im Theater waren, blieb Mark, ein Einzelkind, zu Hause, um einen Film zu schauen. Er ging nicht aus, weil er sich seit dem Nachmittag nicht wohl fühlte. Die Eltern betonen, dass Mark ein „guter Junge” ist: Er trinkt nicht, raucht nicht und nimmt keine Drogen. In der Familie gibt es keine psychiatrischen Erkrankungen, Epilepsie oder andere relevante neurologische Erkrankungen.

Erstuntersuchung (03:10 Uhr)

Bei der Untersuchung:

Erste Laboruntersuchungen (03:20 Uhr)

Patientengespräch (03:30)

Im Rahmen der routinemäßigen Untersuchung von Jugendlichen wurde Mark unter Ausschluss seiner Eltern befragt. Trotz wiederholter Fragen bestritt er konsequent jeglichen Alkohol- oder Drogenkonsum. Seine Äußerungen waren teilweise unzusammenhängend, aber er blieb bei seiner Ablehnung.

Behandlung (03:35)

Peripherer IV-Zugang; 0,9 % NaCl 500 ml IV über 60–90 Minuten; Ondansetron 4 mg IV. Kontinuierliche Überwachung (EKG, SpO₂, NIBP). Unterbringung in einer reizarmen Umgebung.

Bildgebung (04:05)

Kopf-CT ohne Kontrastmittel: normal.

Neurologische Konsultation (04:20)

Arbeitsdiagnose: virale Enzephalitis (HSV hoch in der Differentialdiagnose) vs. toxisch-metabolische Enzephalopathie. Lumbalpunktion (LP) vorgeschlagen, aber aufgrund der Erregung verschoben.

Psychiatrische Konsultation (04:45)

Mögliche erste psychotische Episode; Neubewertung nach Ausschluss organischer Ursachen.

Gezielte Sedierung (05:00 Uhr)

Lorazepam 1 mg i.v. bei starker Erregung mit guter Wirkung; keine paradoxe Reaktion.

Klinischer Status (05:30 Uhr)

Wechselnde Erregung und Schläfrigkeit; Mydriasis und Diaphorese bestehen fort. Intermittierende Myoklonien beobachtet. Keine Meningismus; Kraft und Reflexe erhalten, wenn kooperatiosfähig.Da die ersten Laborwerte/CT und die routinemäßige Toxikologie negativ sind, erweitert das Notfallteam die Untersuchung und konzentriert sich dabei auf dringende und behandelbare Ursachen.

Erweiterte toxikologische und metabolische Untersuchung (05:45)

Serum und Urin werden zur GC-MS-Analyse eingeschickt (synthetische Cannabinoide, Cathinone, Tryptamine/LSD-Derivate und andere NPS). Paracetamol- und Salicylatwerte werden bestimmt. Zusätzliche Stoffwechseluntersuchungen: Ammoniak, TSH + freies T4, morgendliches Cortisol.

Infektionsdiagnostik (06:00)

Nach teilweiser Sedierung wird eine LP durchgeführt (~8 ml klarer Liquor) zur Zellzählung/Differenzierung, Glukose, Protein, Gram/Kultur und PCR für HSV-1/2, VZV, Enterovirus, West-Nil-Virus. Blutkulturen werden angelegt. Empirische Gabe von Acyclovir IV 10 mg/kg alle 8 Stunden unmittelbar nach der LP gemäß HSV-Protokollen.

Neurologische Untersuchungen (06:30 Uhr)

Dringende EEG-Untersuchung angefordert (Ausschluss von NCSE; enzephalitische Muster). MRT des Gehirns mit Gadolinium geplant (diagnostische Fragestellung: frühe HSV-Veränderungen, autoimmune limbische Enzephalitis, ADEM, subtiler Schlaganfall).

Psychiatrie revidiert den Befund (06:45 Uhr)

Angesichts von Fieber, Tachykardie, Diaphorese, Mydriasis, Erbrechen und Myoklonus ist eine primäre psychiatrische Störung unwahrscheinlich, solange organische Ursachen nicht ausgeschlossen sind.

Diagnose weiterhin unbekannt

Zu diesem Zeitpunkt wird Mark hydriert, teilweise sediert, erhält empirische antivirale Medikamente und wird engmaschig überwacht, während umfassende toxikologische, infektiologische und neurologische Untersuchungen durchgeführt werden.

Quellen
  1. Rampolli FI, Brvar M. Accidental Amanita muscaria poisoning: Case report and review of the literature. Clin Toxicol (Phila). 2021;59(9):853-857. doi:10.1080/15563650.2021.1873136.
  2. Moss MJ, Hendrickson RG. Toxicity of muscimol and ibotenic acid containing mushrooms: A systematic review. Toxicon.2019;168:113-120. doi:10.1016/j.toxicon.2019.07.005.
  3. Dushkov A, Stoyanov P, Georgieva S, et al. Analysis of ibotenic acid, muscimol, and ergosterol in Amanita muscaria. Molecules. 2023;28(20):7414. doi:10.3390/molecules28207414.
  4. Leas EC, Kreslake JM, Prochaska JJ. Need for a public health response to the unregulated sales of Amanita muscaria mushrooms. Am J Prev Med. 2024;66(5):713-716. doi:10.1016/j.amepre.2024.01.011.

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