Kasuistik: Eine disseminierte Tuberkulose?

Ein junger Einwanderer aus Guatemala stellt sich mit Kurzatmigkeit und auffälligem Lungenbefund in einer Klinik vor. Ist er ein weiterer Fall einer in seiner Heimat häufigen disseminierten Tuberkulose?

Fallpräsentation: Klare Lungensymptomatik

Wie lautet die Diagnose nach Symptomlage?

Vor dem Hintergrund, dass der junge Mann aus Guatemala in die USA einreiste, um dort Arbeit zu finden, verstärkt sich der Verdacht auf eine disseminierte Tuberkulose. Guatemala gehört zu den Staaten der Welt mit vergleichsweise hoher Tuberkulose-Inzidenz von 21 auf 100.000 Einwohner.

In der Radiologie zeigte sich zudem zusätzlich zu den kavitären Lungenläsionen eine große Gewebemasse, welche bis in das linke Atrium hineinreichte. Das Labor ließ zudem auf eine Entzündung schließen, Urobilinogen war erhöht. Tests für COVID-19, Influenza, RSV und HIV waren negativ.

Nach Einschätzung der Notfallmediziner vor Ort erfüllte der Patient Kriterien einer Sepsis und wurde intitial mit einem Breitband-Antibiotikum behandelt. Eine anschließende Bronchoskopie sowie ein durchgeführtes Transthorakales Echokardiogramm bestätigten beide die Gewebemasse in der linken Lunge und im linken Atrium. In der erneuten klinischen Untersuchung fiel darüber hinaus ein vergrößerter, schmerzloser Hoden auf. Nach Aussage des Patienten bestand dieser Zustand ebenfalls bereits seit mehreren Monaten.

Wie würden Sie in diesem Fall entscheiden? Handelt es sich um eine disseminierte Tuberkulose oder Organtuberkulose? Was würden Sie diffentialdiagnostisch noch abklären lassen?

Die Auflösung: Ein tödlicher Irrtum

Anders als die erste Symptomlage vermuten ließ, litt der junge Mann nicht an einer Tuberkulose. Der Patient wurde stattdessen aufgrund des Hodenbefundes in der urologischen Klinik vorgestellt. Ein dort durchgeführter Ultraschall fand eine 8 x 4 x 5 cm umfassende Tumormasse am rechten Hoden. Vier Tage später erfolgte die radikale Ochiektomie. Zeitgleich wurde die Gewebemasse aus der Lunge nach Biopsie als Metastase eines primären Hodentumors identifiziert. Eine weitere Metastasierung zeigte sich in der rechten Niere.

Aufgrund der starken Beteiligung des Herzens und der hohen Metastasenlast erhielt der Patient eine 5-tägige platinbasierte Chemotherapie ohne weitere chirurgische Intervention. Obgleich sich ein Rückgang der Metastasengröße zeigte, vertrug der Patient die Therapie allgemein sehr schlecht. Sein Zustand verschlechterte sich zudem schnell. Schließlich verstarb der junge Mann infolge eines akuten Nieren- und Leberversagens.

Differentialdiagnose: Hodentumor beim jungen Mann

Der vorliegende Fall eines 22-jährigen Mannes aus Guatemala stellte die behandelnden Ärztinnen und Ärzte vor ein diagnostisches Dilemma. Auf der einen Seite passte die beobachtete Symptomatik sehr gut auf die Tuberkulose, eine Infektionskrankheit, welche im Heimatland des Patienten eine hohe Inzidenz (21/100.000) aufweist.

Andererseits musste jedoch in diesem Fall ebenso an das in Guatemala sehr viel seltener auftretende Hodenkarzinom (0,6/100.000) gedacht werden, eine Neoplasie, deren Altersgipfel in der Gruppe der Heranwachsenden und jungen Männer bis 35 Jahre liegt.

Für den jungen Mann war jedoch verhängnisvoll, dass sein metastasierter Hodentumor typische pulmonale Symptome einer Tuberkulose verursachte und die Ärztinnen und Ärzte somit auch bereits Monate vor dem akuten Notfall auf eine falsche Fährte gelockt hatte.

Was hätte besser laufen müssen?

Dieser Fall zeigt wiederum auch, wie wichtig die Differentialdiagnose "infektöse Erkrankung versus Neoplasie" bei jungen Männern ist. Eine bereits früher vorgenommene Untersuchung der Hoden hätte womöglich eine schnellere Diagnose und Therapie ermöglicht und das Leben des 22-Jährigen retten können.

Darüber hinaus sollten Ärztinnen und Ärzte aber ebenso darauf achten, jungen Männern und Heranwachsenden die Möglichkeit der Selbstuntersuchung der Hoden ("Tastuntersuchung") zu erklären. Wäre der Patient ausreichend informiert gewesen, bei welchem Tastbefund er einen Arzt hätte konsultieren sollen, hätte er sehr wahrscheinlich nicht monate- oder sogar einige Jahre lang mit einem vergrößerten, schmerzlosen Hoden gelebt.

Quelle: Najdawi F et al., Annals of Medicine and Surgery 72 (2021) 102975 

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