In der Medizin ist Sprache weit mehr als ein Werkzeug der Information. Sprache ist die wichtigste vertrauensbildende Maßnahme in der Medizin. Sie ist Beziehung, Haltung und Verantwortung – und oft der erste Schritt zur Heilung.
Lange Zeit dachte ich, Sprache sei einfach ein Werkzeug, das wir Ärztinnen und Ärzte automatisch beherrschen. Im Studium wurde dieser Eindruck noch verstärkt, denn dort wurde Kommunikation kaum strukturiert vermittelt. Doch sich verständlich auszudrücken oder mit Kritik umzugehen, passiert nicht von selbst und folgt keinem zufälligen Prozess. Heute weiß ich: Sprache ist immer Beziehung – und gelingen kann sie nur gemeinsam.
Einige einfache Prinzipien verändern viel:
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Nichts zeigt das deutlicher als ein medizinisches Gespräch. Wir benutzen Worte selbstverständlich – und merken oft erst später, dass ihr „Gebrauch“ in der Lebenswirklichkeit der Patientinnen und Patienten ein völlig anderer ist.
Wir sind es gewohnt, in Fachbegriffen zu denken. Für uns ist „Ovarialkarzinom Stadium IIIc“ eine eindeutige Einordnung. Für das Gegenüber ist es ein Schlag. Ein Knall. Eine Wand, häufig ein Schlag ins Gesicht!
Sensible Sprache entsteht nicht aus Lehrbüchern. Sie entsteht aus Begegnungen. Aus der Fähigkeit zuzuhören, bevor man spricht. Paul Watzlawick sagte: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Ich ergänze: Man kann auch nicht nicht in Beziehung gehen.
Sobald wir ein Zimmer betreten, beginnt die Beziehung – noch bevor das erste Wort fällt. Unsere Sprache ist die Fortsetzung dieser Beziehung mit anderen Mitteln.
Ich habe nicht an einem bestimmten Tag begonnen, sensibler zu sprechen. Aber es gibt Momente, die meinen Weg geprägt haben.
Eine Frau mit metastasiertem Mammakarzinom – erschöpft, aber entschlossen. Die klassischen Therapien waren fast ausgeschöpft. Es gab eine Studie, zwei Arme, eine Möglichkeit. Ich erklärte das Design: zwei Studienarme, Randomisierung, Wirkmechanismus, Nebenwirkungen. Ein langes, konzentriertes Gespräch.
Am Ende sagte sie, sie wolle teilnehmen. Dann jedoch ihre Frage:
„Herr Doktor, ist die Therapie nicht zu intensiv, wenn sie in zwei Armen gegeben wird?“
Für uns sind Studienarme abstrakte Gruppen. Für sie waren es zwei parallele Therapien. Zwei Lasten. Zwei Chemotherapien. Ein einziges Wort – und zwei Bedeutungswelten.
Wir sagen: „Ihr Befund ist positiv.“ Für uns heißt das: etwas Krankhaftes wurde nachgewiesen. Für viele klingt „positiv“ zunächst gut.
Wir sagen: „Der Tumor ist stabil.“ Für uns bedeutet das: Er wächst nicht. Für manche: Er bleibt da. Er geht nicht weg.
Wir sagen: „inoperabel“ – fachlich korrekt. Für Patientinnen klingt es wie ein endgültiges Urteil.
Wir sagen: „Progression“ – nüchtern und präzise. Für sie: Es wird schlimmer.
Wir sagen: „Ihr Tumor ist platinresistent.“ Für uns: Wir ändern die Strategie. Wir sprechen von personalisierter und individualisierter Medizin, aber kategorisieren und klassifizieren nahezu jede Krankheitssituation, selbst wenn die klassischen Definitionen hierzu gar nicht entwickelt wurden.
Für Patientinnen: etwas ist stärker geworden als jede Therapie. Die unausgesprochene Frage: „Habe ich jetzt jede Chance verloren?“ Ist mir eine Option verwehrt worden?
Der Sprachphilosoph Hans-Georg Gadamer schrieb: „Verstehen ist immer ein Sich-in-etwas-einlassen.“ In der Medizin heißt das: Wir müssen uns einlassen auf die Sprache der Menschen, die uns gegenübersitzen. Zwischen gesagt und verstanden liegt ein weiter Weg – und dieser Weg gehört zu unserer Verantwortung. Mit der Zeit habe ich verstanden: Wir dürfen uns nicht daran messen, was wir glauben, gesagt oder beabsichtigt zu haben, sondern daran, was bei unseren Patientinnen und Patienten tatsächlich ankommt.
Dieser Perspektivwechsel hat meine Arbeit verändert – aber eines wurde mir dabei klar:
Was ich gelernt habe, war stark abhängig von glücklichen Zufällen, von Menschen, die aufmerksam waren, und von Momenten, die mich wach gemacht haben. So sollte man Kommunikation nicht lernen müssen.
Damit Medizin nicht zur Fremdsprache wird – und bleibt – brauchen wir Strukturen:
1. Kommunikation als Curriculum
Kommunikation ist kein „Soft Skill“, sondern eine klinische Kernkompetenz.
Wir brauchen Lehrmodule, Simulationen, Gesprächstrainings und klare Kompetenzziele – von der Ausbildung bis zum Facharzt.
2. Supervision und geschützte Reflexion
Ich habe am meisten gelernt, wenn ich Gespräche nachbesprechen konnte – mit Kolleginnen, Pflege, Psychologinnen. Diese Räume müssen selbstverständlich werden, nicht zufällig.
3. Teamkultur als Vorbild
Sensible Sprache ist gelebte Kultur. Junge Kolleginnen und Kollegen lernen am stärksten durch Vorbilder – durch Kolleginnen, die Pausen halten, Worte anpassen, Fehler korrigieren.
4. Zeit als therapeutischer Faktor
Verständliche Sprache braucht Atem. Ein gehetztes Gespräch erzeugt Unsicherheit.
Zeit ist kein Luxus. Zeit ist Behandlung.
5. Institutionelle Verantwortung
Regelmäßige Trainings, Onboardings, Reflexionsrunden, feste Kommunikationsmodule – erst wenn sie strukturell verankert sind, wird sensible Sprache zur verlässlichen Qualität.
Sensible Sprache bedeutet, unser Wissen zu übersetzen – ohne es zu verkleinern. Brücken zu bauen zwischen Fachsprache und Lebenswirklichkeit.
Wichtig ist: Immer wieder fragen: „Was haben Sie verstanden?“ “Wie würden Sie es Ihrem Partner oder Ihrer Tochter erklären?“ Erst wenn Menschen in ihren eigenen Worten wiedergeben können, was auf sie zukommt, hat unsere Sprache ihren Auftrag erfüllt. Sensible Sprache ist keine Nebensache. Sie ist ein Kernbestandteil unserer ärztlichen Verantwortung. Sie beginnt nicht mit Formulierungsregeln. Sie beginnt mit einer Haltung – und mit Strukturen, die diese Haltung stützen. Sprache ist die wichtigste vertrauensbildende Maßnahme in der Medizin. Diese Chance sollten wir nicht verpassen, wirklich nicht!