Weihnachten als Hausarzt bedeutet auch Notdienst, Bereitschaft, Stunden in der Praxis. Natürlich ist es eine besondere Zeit, eine besondere Stimmung, wenn alle feiern und man selbst Dienst hat. In den letzten fünf Jahren war ich dreimal eingeteilt und habe das immer gern gemacht. Es gibt ganz unterschiedliche Erinnerungen an diese Weihnachtsdienste. Manche Patienten sind feierlich gestimmt, treten freundlich und nicht ganz so fordernd auf wie sonst. Aber ich erlebe auch das Gegenteil.
Einmal saß ich in meinem Arztzimmer und ein junges Paar kam herein. Beide schwiegen zunächst finster. Sie schob einen Kinderwagen recht dynamisch in den Raum. Und während ich wartete, dass sie mir ihr gesundheitliches Problem schildern, brach es aus ihr heraus – in Richtung ihres Mannes: “Deine Eltern waren viel schlimmer als meine!” Dann haben die beiden sich vor meinen Augen und Ohren gezofft und ich bin rausgegangen, habe mir einen Kaffee geholt. Danach haben wir besprochen, um welche gesundheitliche Frage es überhaupt ging. Er hatte erhöhten Blutdruck – angesichts der stressigen Familiensituation wohl eher normal. Und eine häufige Feiertagsdiagnose.
Ich kenne das Geschehen nun seit rund 20 Jahren und ich erinnere mich, dass es einmal Zeiten gab, in denen man im Fahrdienst oder in der Notambulanz kleine Geschenke von den Patienten bekam. Manche entschuldigten sich auch, dass sie ausgerechnet Weihnachten kämen und stören, aber es sei nun einmal dringend, wegen der Galle oder weil man die Medikamente vergessen hätte. Diese Bescheidenheit und Höflichkeit gibt es in meinem Beritt nur noch sehr vereinzelt. Da werde ich auch über die Feiertage mehr als Dienstleister gesehen und auch entsprechend behandelt.
In die Notaufnahme, die von der Bereitschaft unbedingt zu unterscheiden ist, kommen Schlaganfallverdacht, Herzschmerzen, Verdacht auf Lungenentzündung. Im Bereitschaftsdienst geht es eher darum, dass sich die Weihnachtsgans bei der Galle gemeldet hat, oder es wurden Rezepte vergessen, Medikamente sind aufgebraucht und aus einem kleinen Husten wird ein etwas größerer – insgesamt eher die kleinen Geschichten.
Für mich ist es keine besondere Belastung, in der Praxis zu sein, wenn zu Hause die Kerzen leuchten – es ist Teil des Arztberufes, den habe ich mir ausgesucht. Meine Familie hat Verständnis dafür. Meine Frau macht bestimmte Vorbereitungen ohne mich, auch sie hat sich daran gewöhnt – für mich auch ein gewisser Vorteil.
Am 24. Dezember ab 16 Uhr ist es dann auch im Dienst immer besonders ruhig. Ich habe da auch schon von 16 bis 22 Uhr ohne Patientenkontakt gesessen. Am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag steigt die Frequenz dann deutlich.
Zusammengefasst: In der Notdienstambulanz versammeln sich Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Und manchmal bahnen sich auch die bekannten Probleme ihren Weg: Magen, Gallenblase, Gichtanfall, sodass Hilfe benötigt wird.
Viele nutzen anscheinend auch die Möglichkeit, zum Arzt zu gehen, wenn nicht so viel los ist wie werktags – weil der Arzt eben zunehmend als Dienstleister wahrgenommen wird. Der sitzt ja da sowieso seine Zeit ab, dann kann ich auch mit einem Kratzen im Hals hingehen. Nunja, das stimmt ja in gewisser Weise auch. Und man ist auch dankbar für den einfachen Fall, bei dem man sofort helfen kann. Die ärztliche Kunst ist es, zwischen all den einfachen Dingen, die eher zu den Lappalien gehören, dann doch den versteckten Herzinfarkt herauszufischen und keine wirkliche Gefahr zu übersehen. Feiertagsbedingte Lässigkeit darf es nicht geben. Und die gibt es bei Profis auch nicht. Die Alarmsirenen schrillen, wenn ein möglicher Schlaganfall vorliegt. Dann greifen die Routinen, Herzenzyme, EKG – und bei Bedarf ab in die Notaufnahme. Natürlich auch am Heiligabend oder zu Silvester. Genau dafür sind wir da, während andere unbesorgt feiern.
Es kommt auch vor, dass die Enkel, die bei Opa zu Besuch sind, ihn drängen, etwas abklären zu lassen, woran er sich schon gewöhnt zu haben scheint. Sie eskortieren ihn dann zu uns. Und das kann durchaus sinnvoll sein. Oder die Familie möchte ihre Senioren lieber stationär unterbringen – wo sich andere kümmern können. Im Fachterminus werden diese Patienten auch Weihnachtsengel genannt – auch das gibt es. Dann muss das schwere Atmen eben genau Weihnachten abgeklärt werden. Es gibt gerade an Feiertagen noch tiefere Einblicke in das menschliche Leben als sonst. Aber mir gefällt das eher, als es mich stören könnte.