Die Rolle der modernen Psychosomatik in der selektionierten Medizin ist die der Brückenfunktion: Um ein bisschen mehr Ganzheitlichkeit in die Behandlung zu bringen. Ich habe beispielsweise Menschen mit einer Post-Covid-Erkrankung erlebt, die extrem brüskiert waren über das Versagen ihres Körpers. Und am Ende der Therapie konnten sie akzeptieren, was ihnen geschieht. Denen ging es nicht unbedingt körperlich besser, sie konnten vielleicht nicht besser gehen, aber sie haben eine andere Perspektive entwickelt. Und ich finde, das ist wirklich eine Verbesserung.
Meine Haltung ist natürlich die, dass chronisch Kranke von psychosomatischer Mitbetreuung profitieren. Sie sind über einen längeren Zeitraum mit ihrem Körper befasst, der ihnen Sorge bereitet und nicht mehr absolut verlässlich zur Verfügung steht. Und das ist natürlich eine psychische Belastung. Wir sprechen von somato-psychischen Anpassungsstörungen. Diese werden ohne psychosomatische Betreuung außer Acht gelassen. Man erhofft sich also eine Verbesserung der körperlichen Situation und möglichst Heilung, vergisst aber, dass der Geist auch sehr gut dazu beitragen kann, wenn er seinen Raum bekommt. Wenn der Geist fließen kann, findet auch der Körper eine gute Ausgangssituation. Sodass immunologische oder hormonelle Heilungsprozesse vom Körper besser umgesetzt werden, meistens unter zusätzlicher medikamentöser Therapie oder einer Operation.
Was ist also der Profit für die Patienten? Nehmen wir an, jemand hat eine einfache Erkältung. Wenn das ein einmaliges Geschehen ist, kann man diskutieren, ob der Psychosomat hier etwas beizutragen hat. Bei einer Infektneigung allerdings, wenn also jemand beobachtet, es kommt immer wieder zu einer Infektion der oberen Atemwege und er wird gar nicht mehr so richtig gesund, ist die Frage: was ist denn da los? Klar, das supprimierte Immunsystem wird eine Ursache haben. Und da ist es lohnenswert, die Psychosomatik einzubeziehen, um zu schauen: Wie haben sich die Entzündungsparameter entwickelt? Und wie kommt das? Was ist los? Hat er einfach immer wieder den Schal vergessen? Oder was hat sich verändert?
Die Hintergründe sind vielfältig. Es gibt ein Erklärungsmodell für Konversionsneurosen, so entwickelte eine Patientin eine Ptosis als Abwehr der Tatsache, dass ihr Mann fremd ging. Oder eine Überforderung führt dazu, dass jemand keinen Stift mehr halten kann. Aber im Bereich der Entzündungen sieht das anders aus. Da würde man eher daran denken, ob jemand sich den nötigen Raum für Heilung nimmt. Wir schauen also: Welche Belastungsparameter gibt es, wie kann derjenige sich den Raum nehmen, sich um seine Erkrankung zu kümmern, sich zu schonen. Die Frage ist nun: Kann der Facharzt sich die Zeit nehmen, diese Dinge zu betrachten? Oder konzentriert er sich banal auf das Sichtbare, auf den Infekt? Wir leiden unter der Sektionierung in der Medizin. Diese ist dem Abrechnungssystem geschuldet. Nehmen wir eine Augenentzündung. Die Augenärztin hat ihre eigene Praxis. Sie hat gelernt, unter Druck so effektiv zu arbeiten, dass sie die Leistungen anbieten kann, die sie bezahlt kriegt. Und dazu gehört sicher nicht: Sprechen. Wir gehen ja auch nicht zum Fleischer und fragen nach Käse. So ist es auch in der Medizin. Das wurde so gezüchtet. Dabei ist Mitgefühl immer auch Teil der Heilung. Und das ist ohne Gespräch kaum zu vermitteln.
Wenn der Patient zum Arzt kommt, stellt sich sofort ein Ungleichgewicht her. Der Patient möchte etwas, meist Hilfe, und der Arzt ist ein Zwischending aus Dienstleister und Heiler. Und zum Heilen gehört Mitgefühl, Berührung. Die ärztliche Untersuchung dient auch dazu, einen Vertrauen stiftenden Prozess in Gang zu setzen, in dem der Patient sich fallen lassen kann. Auch das ist Heilung. Und das findet kaum mehr statt.
Gehen diese Vorstellungen an der Realität vorbei? Weil es keine Zeit für Gespräch, Mitgefühl und Berührung gibt? Nun, wenn man zum Psychosomaten geht, dann nicht. Das ist natürlich eurozentristisch gedacht. Denn in anderen Kulturen, beispielsweise der traditionellen chinesischen Medizin oder der ayurvedischen Medizin, war das schon implementiert. Da wurde Psychosomatik nicht getrennt von der restlichen Medizin gedacht. In Europa hat sich das Fachgebiet relativ spät entwickelt und findet nun in einem gesonderten Fach statt.
Ein idealer Arzt könnte das alles in einem machen. Der ist in der Lage, Gespräche in einer guten Arzt-Patienten-Kommunikation zu führen. Aber das ist sehr, sehr selten.
Es gibt Ärzte, oft sind es die Älteren, die haben das in sich. Die haben diese Herangehensweise. Die nehmen sich den Raum für Empathie, für die ganzheitliche Sichtweise. Die haben die Freiheit im Kopf. Die Jüngeren sind oft darauf geschult, in Checklisten zu denken. Dadurch kommt die intuitive Reaktion auf das Gegenüber zu kurz.
Die Addition von Therapiemöglichkeiten und der Einsatz von künstlicher Intelligenz wird Medizin zu einem viel breiteren Feld werden lassen. Und in diesem Umfeld ist es einem einzelnen Menschen kaum mehr möglich, alles selbst zu können. Dennoch sage ich: Jeder, der im Arztberuf arbeitet, sollte die Fähigkeit zu Empathie haben. Sonst ist er falsch im Beruf. Sie können die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Therapie nachschlagen, das ist nicht schwer. Wenn wir aber nicht empathisch sind, wenn wir uns gar nicht in den Patienten hineinversetzen können, kann das ebenso schlimm sein, wie das falsche Medikament zu geben.
Medizin ist ja ursprünglich aus der Philosophie entstanden. Da war die Frage: Was ist ein gutes Leben? Was bedeutet Gesundheit? Was bedeutet Sterben und was bedeutet Leben? Das ist nicht mit dem Blutwert oder der Herzgesundheit beschrieben. Gutes Leben bedeutet immer, dass man ein Stück von sich selbst verstanden hat. Je besser wir uns selbst verstehen, je mehr wir reflektiert haben über die Dinge, die uns berühren und prägen, desto besser können wir leben. Es ist sinnvoll, sich für ein gutes, gesundes Leben selbst besser zu kennen.Und dafür sind Psychotherapie und Psychosomatik ein wunderbares Feld. Einfach gesagt: Wenn ich eine Karzinomdiagnose bekomme, muss ich mit der Wut und der Trauer irgendwo hin. Ich muss sie erleben dürfen. Wo finden diese Affekte Raum? In der Psychosomatik!